ЛЕВ БЕРИНСКИЙ. ПРОЩАЛЬНЫЙ СЕЗОН В РАЮ
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​​                                                 
                                                            Lev Berinski,
                           jiddischer Schriftsteller, Mitglied des P.E.N.-Clubs,
                          1998-2001 – Vorsitzender des Jiddischen Schriftsteller-
                                           und Journalistenverbands in Israel.  



                                Die Geschichte des Aufblühens
                    und die Geographie des Verfalls
                          der jiddischen Literatur



          Offener Brief an das Zentrum der verfolgten Künste, Wuppertal,                                                              und an den Exil-P.E.N., London



"Was innerhalb großer Literaturen unten sich abspielt und einen nicht unentbehrlichen Keller des Gebäudes bildet, geschieht hier im vollen Licht, was dort einen augenblicksweisen Zusammenlauf entstehen lässt, führt hier nichts weniger als die Entscheidung über Leben und Tod aller herbei".  
                                                                                                                          Franz Kafka  



Die aschkenasische Kultur, – ein Geisteskind des jüdischen Volkes, – wurde in der Diaspora, in Europa, geboren und ist gegenwärtig dabei, in ihrem heutigen Exil, in Israel, außerhalb Europas unterzugehen.

Während die europäischen Juden – auf die eine oder andere Weise, in diesem oder jenem Jahrzehnt des 20.ten Jahrhunderts, aus West- oder Osteuropa hinausgedrängt – in Israel ihre historische Heimat wiedergefunden haben, wurde hier ihre Kultur als eine fremde und schändliche erklärt, und sieht sich jetzt infolge der langjährigen missgünstigen Staatspolitik in Agonie auf dem Totenbett.

Auf diesen Seiten möchte ich aber weniger über unsere gesamte Kultur als viel mehr über die Lage der jiddischen Literatur sprechen. Doch vorher ein kurzer historischer Exkurs für diejenigen, die mit unserer Sprache und Literaturgeschichte nicht besonders vertraut sind.




                                                                               *  *  *

Jiddisch zählt zu den sogenannten jüdischen Gruppensprachen. Es ist im deutschen Sprachgebiet als Sprache des mittel- und osteuropäischen, also des "aschkenasischen" Teils des Judentums entstanden und stellt eine Nebenform des Deutschen dar. Man geht davon aus, dass etwa um das Jahr 1000 die Einwanderung von Juden aus Frankreich und Italien in den Raum von Moselbecken und linkem Rheinufer einsetzte, Die aschkenasische Kultur den sie "Loter" (Lothringen) nannten. Die dort um die Zentren Köln, Mainz, Worms, Speyer und Metz herum entstandenen jüdischen Kehilen (Gemeinden) bildeten den Kern einer später jiddisch sprechenden Bevölkerung, indem sie aus den deutschen Dialekten ihrer Umwelt ihr eigenes Idiom formten.

Über die Zeit hinweg hat sich Jiddisch, ehemals ein Gruppendialekt, zu einer eigenen Sprache fortentwickelt, in der man heute Elemente findet, die aus vorwiegend vier Sprachen verschmolzen sind: das deutsche Element (etwa 70%), das hebräisch-aramäische (etwa 15%), das slawische (etwa 10%) und noch ein sehr geringes romanisches Element.

Eine Unterteilung nach zeitlichen Phasen in der Geschichte der Sprache ist folgendermaßen üblich: Urjiddisch (laut Max Weinreich: 1000 bis 1250), Altjiddisch (1250 bis 1500), Mitteljiddisch (1500 bis 1700) und schließlich Neujiddisch.  

Im westjiddischen Sprachzweig unterscheiden die Sprachforscher etwa 15 Dialekte (Berlin, Böhmen, Elsass, Frankfurt u.a.); im ostjiddischen – das Nordjiddische und das Südjiddische (Polnisch-Jiddisch, Ukrainisch-Jiddisch, Jungjiddisch).  

Verglichen mit dem Neuhochdeutschen erweist sich das Grammatiksystem im Jiddischen als vers implifiziert.


Die Geschichte der jiddischen Sprache und der jiddischen Literatur verliefen analog. Die jiddische Literatur entstand zusammen mit der jiddischen Sprache im Westen, und ging, Ende des 18.ten Jahrhunderts, hier wieder gemeinsam mit ihr unter, während beide im Osten noch zu hoher Blüte gelangten.

Als ältestes Literaturzeugnis wird ein Verspaar im Wormser Mahzor von 1273 angeführt. Aber schon in der Cambridger Handschrift (1382, ursprünglich aus der Kairoer Genisa) sind sieben verschiedene Stücke zu finden: ein Gedicht über die Kindheit Abrahams, eines über Joseph und Potiphars Frau, u.a. Und in der Übersetzung des 1544 in Augsburg gedruckten Samuel-Buches klingt schon der erste Satz – als Anfang einer zu jener Zeit "soliden" Ausgabe – überhaupt völlig traditionell: "Das Buch Sch’muel in teutscher schprach huepsch un bescheidlich, auch kurzweilig darinen zu leien".  

Nach vielen wichtigen Ausgaben, z.B. religiösen und moraldidaktischen wie "Zeno ureno" ("Geht und seht"), "Sefer Midot" ("Das Buch der Normen") u.a., erschien 1541 das in feinen Versen geschriebene "Bovo-Buch" – eine Übersetzung des noch 1497 auf Italienisch gedruckten Romans "Buovo d’Antona", welcher seinerseits in einer Version des anglo-normannischen Romans des 13. Jahrhunderts "Buève de Hantone" seine Wurzeln hat. Das jiddische "Bovo-Buch" von Elia Levita (1469-1549) wurde zu einem echten Gemeingut des Volkes – und gilt als Beginn der jiddischen Belletristik. (Vielleicht ist es nicht überflüssig anzumerken, dass Levita in seinem Bovo-Buch eine sehr originelle Form der poetischen Strophe ausgearbeitet hat und dass die zweite Hälfte des Buches in streng jambischen Metren geschrieben ist. Levita war der erste, der in der europäischen Poesie den Jambus verwendet hat).

Auch nach Levitas Zeit hat man, wie früher, auf Jiddisch Bücher der Bibel, epische Poesie von biblischen Themen, Purimspiele, Liturgische Texte, historische Gedichte und historiographische Werke geschrieben und gedruckt, und dann später, schon mit dem Aufkommen des Chassidismus – hagiographische Erzählungen (Heiligenlegenden bzw. Lebensbeschreibungen) von den chassidischen Führern und ihren Wundertaten, wie auch Prosa-Werke mit mystisch-symbolischem Inhalt.

Die funktionellen Differenzierungen zwischen der jiddischen und der hebräischen Literatur, die beide simultan in der europäischen jüdischen Kultur existiert haben, sind bis zum 18.ten Jahrhundert klar zu erkennen. Hebräisch spielte seine herausragende Rolle, um die höchsten religiösen, intellektuellen, ästhetischen und sozialen Ideale auszudrücken, während Jiddisch sich damit begnügte, die breiten Massen zufrieden zu stellen, man kann sagen – das einfache Volk, das gewöhnlich, vor allem die Frauen, keine theologische und philosophische Ausbildung genossen hatte. Darüber hinaus behandelte die jiddische Literatur auch solche Themen und handhabte auch solche Formen, die in der hebräischen Literatur überhaupt nicht bekannt waren.

Zu Beginn des 19.ten Jahrhunderts entstand eine neue Schriftsprache, die in den osteuropäischen jiddischen Dialekten ihre Grundlage hatte; in Westeuropa hingegen hörte Jiddisch zu diesem Zeitpunkt auf, als literarische Sprache zu dienen, da die Aufklärung und Emanzipation dort zur vollkommenen Sprachassimilation geführt hatten. In diesem Zusammenhang ist es lohnenswert, auf ein bei den Juden Westeuropas so populäres Genre hinzuweisen wie Transkriptionen deutscher Bücher in jiddisch-hebräische Buchstaben (was auch einen Einfluss auf die gesamte jiddische, auch spätere, Literatur hatte): Gedichte, fantastische und abenteuerliche Erzählungen u.a. – die sogenannten Volksbücher. Für die Entwicklung der jiddischen Literatur hat auch die Folklore eine große Rolle gespielt – die allgemeine mündliche Volks- oder Anonymschöpfung. Von einer modernen jiddischen Literatur im aktuellen Wortsinn kann man jedoch erst ab Beginn der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts sprechen.

Mordechai Zanin, (geb. 1906), der Veteran der jiddischen Gegenwartsliteratur, schreibt im Vorwort zu einer Lyriksammlung: "In welchem Milieu gedeiht die Dichtkunst bei Völkern bis sie zu dem Standard gelangt, den unsere großen Poeten zwischen den beiden Weltkriegen erreichten? Aus der Geschichte anderer westeuropäischer Literaturen wird deutlich, dass sich bei allen Völkern ein ähnliches Milieu bilden musste. Es gibt nur einen Unterschied in der Dauer vom dichterischen Anfang im Volk bis zur poetischen Gewandtheit. In der französischen Dichtung dauerte diese Entwicklung von François Villon bis Paul Verlaine etwa 400 Jahre – in der jiddischen Literatur nahm sie weniger als ein Jahrhundert in Anspruch. Die nur mündlich überlieferte Volksdichtung ist über alle religiösen und assimilatorischen Hemmungen hinausgewachsen und die große jiddische Dichtung brach daraus hervor wie eine Eruption."

Genau dasselbe gilt auch für die jiddische Prosa, mit der gerade in Osteuropa, Ende des 19.ten Jahrhunderts, der triumphale Marsch der jiddischen Welt-Literatur einsetzte. Mendele Mojcher Sforim (1836 – 1917), Jizchak Lejb Perez (1852 – 1915) und Scholem Alejchem (1859 – 1916), – diese unsere drei Klassiker haben mit ihrem Werk ein kolossales Fundament gelegt, auf dem später – in einer fantastisch kurzen Zeitspanne – die jiddische Literatur errichtet wurde, zuerst, wie gesagt, in Osteuropa und später – in Nord- und Südamerika, in Australien, in Südafrika, in Israel...

Viele Hunderte von Namen und viele Tausende von Buchtiteln und periodisch erscheinenden Ausgaben finden wir in den literaturgeschichtlichen Verzeichnissen, welche sich allein auf die ersten Jahrzehnte des 20.ten Jahrhunderts beziehen. Aus dem Jiddischen übersetzt man zu jener Zeit in Dutzende von anderen Sprachen, in die jiddische Sprache wird die ganze Weltliteratur aller Epochen übersetzt, auch auf dem Gebiet der Philosophie, Wissenschaft, Ethik, Kunst, Musikologie, Sozialwissenschaft und Politik, Linguistik usw.

Nennen wir wenigstens die allerwichtigsten Namen (obwohl eine Literatur – jede Literatur – aus a l l e n Autoren und Werken besteht, die darin erschienen sind, zumal sich bisweilen viel später herauskristallisiert, dass die neue Epoche einen zu seiner Zeit "gar nicht maßgebenden" Schriftsteller in die erste Reihe rückt ...). Hier also eine kurze Liste bekannter jiddischer Schriftsteller zwischen den beiden Weltkriegen:

M. Altman, D. Bergelson, I. Boruchowitsch, M. Daniel, Der Nister, I. Druker,
I. Fefer, E. Fininberg, S. Godiner, M. Grubian, S. Halkin, I. Harik, D. Hofstein,
E. Kasakewitsch (später ein sehr populärer russischer Schriftsteller), I. Kipnis,
M. Kulbak, A. Kuschnirow, L. Kwitko, N. Lurie, P. Markisch, N. Oislender,
M. Pintschewski, N. Sabara, O. Schwarzman, J. Sternberg, M. Teif, M. Wiener
– in der Sowjetunion
.

M. Burstein, E. Kaganowski, A. Kazisne, H. Nomberg, I. Perle, S. Segalowitsch,
I. Trunk, I. Weisenberg, I. J. Singer und sein jüngerer Bruder, der künftige Nobel-
preisträger I. Baschewis Singer, O. Warschawski – in Polen.


Damals noch junge Dichter und Prosaiker in anderen osteuropäischen Ländern und Gebieten (Litauen, Rumänien, Ukraine, Bessarabien, Bukowina, u.a.):

M. Gebirtig, H. Glik, H. Grade, B. Heller, I. Manger, H. Polianker, I. Stern,
E. Schechtman, I. Schreibman, A. Suzkewer, A. Zeitlin, u.v.a.


Die bedeutendsten in der USA: M. Boreischo, J. Gladstein, A. Glanz-Leieles,
M.-L. Halpern, A. Lessin, H. Leiwik, M. Nadir, I. Opatoschu, S. Asch, S. Schneur,
L. Schapiro, B. Glasman, I. Rolnik, I. Schwarz, A.Tabatschnik, u.a.


Jiddische Literaturzentren entstanden in all den Ländern, in welche die osteuropäischen Juden emigriert sind: so in Berlin und Wien in den 20-er Jahren, wie auch in Paris und London, in Kanada, Argentinien, Südafrika, Australien – nach dem 2.ten Weltkrieg. Einige von ihnen existieren – mit einer sehr kleinen Anzahl Literaten und Journalisten – noch heute.

Über die jiddischen Schriftsteller in Israel wollen wir in einem Rahmen sprechen, innerhalb dessen wir das Problem des gegenwärtigen Zustandes und der Existenzaussichten unserer Literatur betrachten.

                                                                            *  *  *

Heute müsste die jiddische Kultur in Israel seitens der internationalen humanitären und der die Kultur unterstützenden Organisationen, Institutionen und Gesellschaften – wie Unesco, Europazentrum, P.E.N. (aber vor allem seitens des deutschen Zentrums der verfolgten Künste) – einen speziellen Dreifachstatus erhalten: den einer verbrannten, verbannten und schon im Exil verfolgten Kultur – ob das allerdings dieser Kultur noch zum Wiederaufleben helfen könnte, weiß ich nicht.  

Tatsächlich, während nur eines historischen Augenblicks – nur eines Jahrzehnts im 20. Jahrhundert – wurden Millionen der jiddischen Sprach- und Kulturträger in Europa verbrannt, die jiddischen Intellektuellen, wie Künstler und Schriftsteller in der Sowjetunion, ermordet, oder entrechtet, die tausendjährige jiddische Kulturgeschichte, wie auch die Kulturgegenwart, in Israel als vogelfrei erklärt.  

Die Folgen dieses Jahrzehnts waren für die jiddische Kultur in den erwähnten Erdteilen katastrophal und zeigten ihre Auswirkungen auf unsere globale Kultursituation: Durch den existenziellen Schock der Schoah, durch den Verlust des Massenpublikums und die Diskreditierung der Kulturschöpfer im langersehnten "Heimland für alle Juden”, hat sich in etlichen Folgejahrzehnten die jiddische Kultur sowohl auf den beiden amerikanischen Kontinenten wie auch in Australien und Südafrika, wenn man so sagen kann, selbst liquidiert. Kräftig mit Hand angelegt und beigetragen hat zu dieser Selbstliquidierung aber auch die Sochnut (Jewish Agency), deren große Gelder und deren Emissäre in den noch aufzuckenden jiddischen Zentren, z.B. in Argentinien und Russland, den "endgültigen Sieg" des Hebräischen über Jiddisch beschleunigten.

Die Gründe für einen dem europäischen Nichtjuden fast unerklärbaren Hass gegen Jiddisch seitens des neugeborenen Staates Israel (aber auch schon vorher) hat auf seine verschrobene Art, grob empirisch und eindeutig, der hebräisch-jiddisch-russisch-sprachige Publizist Kalman Katzenelson (1907 – 2000) erklärt, der nach Palästina im Jahre 1923 kam und hier die ganze neuste Geschichte des Landes mit eigenen Augen verfolgte. Er war der Autor von 7 oder 8 Büchern, von denen zwei ("Krise des modernen Iwrit", 1960, und "Die aschkenasische Revolution", 1964) eine extrem negative Reaktion des israelischen Establishments hervorriefen. Das Zitat entstammt dem Interview, das er mir 1997 gab und das später publiziert wurde in einer israelisch-russischen Zeitung unter dem Titel:  
                       
                   "Нельзя построить современную цивилизацию на языке Библии" 
           ("Man kann eine moderne Zivilisation nicht auf der Sprache der Bibel aufbauen"):
"Weshalb sind die Gründer des heutigen Staates Israel übergegangen zum alten Hebräisch, machten also eine Kehrtwende um Tausende von Jahren zurück? Weil jene Sprache, einerseits, indem sie die Sprache der Religion ist, alle jüdischen Völker vereint und, andererseits, – alle Fäden zur Diaspora abgeschnitten hat, die für die Staatsbegründer ausschließlich unter politischem Aspekt wichtig war. Es geht darum, dass beim Aufbau des jüdischen Staats zwei Prinzipien wichtig gewesen waren: alle Juden als einheitliches Volk anzuerkennen, und die Tatsache zu ignorieren, dass wir faktisch eine Mischung einiger Völker sind, was eindeutig noch in der Bibel erklärt und wiederholt wurde: "Und der allmächtige Gott segne dich und mache dich fruchtbar und mehre dich, dass du werdest ein Haufe von Völkern" (1. Mose, 28:3), und zum zweiten Mal: "...Ich will dich wachsen lassen und mehren und will dich zu einer Menge von Völkern machen..." (1. Mose, 48:3). Was könnte noch, außer der Religion, deren Sprache Hebräisch ist, ein Vereinigungsfaktor sein? Also – ein Hebräisch, Iwrit, das gleichzeitig für die Staatsväter auch zu einem Instrument der Abtrennung von ihrer Vergangenheit geworden war.

Sie hatten es am eiligsten, sich von jener Welt loszulösen, in der sie bloß einige von Tausenden jüdischer europäischer Sozialisten waren, in der sie im zaristischen Russland immer verfolgt und gedemütigt wurden. Zwei mögliche Wege lagen vor ihnen: dort gegen den Zarismus zu kämpfen oder – hierher zu laufen. Sie wählten die Flucht, weil die russische Revolution 1905 eine Niederlage erlitten hatte und ihnen keine Aussichten ließ. Eine Sache ist es aber – als Flüchtlinge aus einem Land zu gelten, in dem man sie überhaupt nicht kennen wollte, und eine ganz andere – Wiedererbauer eines alten Staates, Nachfolger von David und Salomo, zu werden!


Davon ausgehend, ist die scharfe Abgrenzung von der Vergangenheit – von Diaspora und diesem Jiddisch (als Sprache, Kultur, Mentalität) ganz "logisch". Jiddisch hatte man in Israel gnadenlos verfolgt, als eigenen hässlichen Schatten gejagt. Jiddisch hatte man zur Sklavensprache erklärt, was bis zu dem Verbot führte, auf Jiddisch Theater zu spielen, man warf der jiddischen Presse Steine in den Weg, verbrannte Zeitungskioske, manchmal wurde es sogar gefährlich, Jiddisch auf der Gasse zu sprechen – weil die Gefahr bestand, verprügelt zu werden..."

In solch lapidarer Ausführung kann K. Katzenelsons Interpretation der "Grundmotive" des Konflikts zwischen Jiddisch und Hebräisch in Israel als zu empirisch-vereinfacht und – im historischen Umfang gesehen – naiv erscheinen. Die "Konkurrenz" zweier sich gegenüberstehender Sprachen und ihr Wettbewerb und Kampf um den "gebildeten" wie auch um den "einfachen" Juden fanden, in der Tat, schon zur Zeit der Entstehung des Staates Israel ein hübsches Bündel Jahrhunderte statt – bekannt ist z.B. die Passage Moses Mendelsons über Jiddisch: "Dieser Jargon hat nicht wenig zur Unsittlichkeit des gemeinen Mannes beigetragen...". Jedoch war dieser Streit hauptsächlich soziokultureller oder weltanschaulicher Natur – es haftete ihm nicht der Charakter eines zerstörenden Konfliktes, der Charakter von Verfolgung und Ausrottung an.

In Israel aber, wo es ein strategisch-historisches Programm war, einen neuen Typus von Juden zusammenzuschmelzen, eine Art Homo Israelicus – in Israel wuchs sich die alte Spannung zwischen Hebräisch und Jiddisch aus zu einem wirklichen Krieg des Staates gegen die jiddische Sprache und Kultur – gegen die grundlegenden Elemente der aschkenasischen unwürdigen "Sklaven"-Mentalität.

Von einem unserer besten Dichter, Josef Papernikow (1899 – 1992), welcher 1924 das erste Mal nach Israel kam, und endgültig – in den 30er Jahren, und der hier bis in die 90er Jahre alles miterlebte, stammen solche Klagezeilen: "Die neue Heimat hat mich nicht aufgenommen mit meinem Kind – dem jiddischen Gedicht. Wie ein Armer auf dem Fest eines Reichen bin ich in meinem eigenen Land; nach Jahrzehnten bin ich noch immer kein Teil von ihm geworden. Ich bleibe ein Außenseiter mit meinem beschämten Gedicht..." 

Nein, in Israel hat man keinen jiddischen Schriftsteller erschossen, keinen "nach Sibirien" verschickt: im Exil aber, nein, in diesem Doppelexil befand und befindet sich hier unsere ganze Literatur: einmal – aus Europa hinausgedrängt, das zweite Mal, schon hier, – in die Innenemigration verbannt.

Das wehmütige Paradoxon besteht aber darin, dass die Innere Emigration gewöhnlich eine Feindschaft zum politischen Regime oder Staat impliziert – während die jiddische Literatur aber wieder und wieder ihre Liebe zu Israel in Gedichten und Prosa zum Ausdruck gebracht hat. "Die Jiddisch schreibenden Autoren im Staat Israel hatten schon immer und haben auch heute ein offenes Ohr und ein wachsames Herz für den Überlebenskampf, die Nöte und das Weh, für die Bedürfnisse und die spezifischen Probleme ihres Volkes" – heißt es im Vorwort der Anthologie "Jiddisch-Literatur in Medines-Israel", (Lejwik-Farlag, Tel-Aviv, 1991).

Die Anthologie – solch eine schöpferische Rechenschaft über ca. 50 Jahre jiddischer Literatur im Staat Israel – erschien in zweibändiger Ausgabe und stellte auf ihren mehr als 1000 Seiten 204 Autoren vor, deren sich keine einzige Literatur auf der Welt hätte zu schämen brauchen.

Die Tragik der Situation ab den 40er Jahren bestand darin, dass sich ausgerechnet in Israel kurz nach dem Weltkrieg und in den Folgejahren die Mehrheit der jiddischen Literaten der ganzen Welt konzentrierte, so dass hier, kann man sagen, der überwiegende Teil der jiddischen Weltliteratur in diese ungünstige Position geraten ist. Noch bis zum heutigen Tag, reduziert in der Anzahl der Personen und im schöpferischen Potential, besteht der Verband der jiddischen Schriftsteller und Journalisten in Israel aus ca. 80 Mitgliedern, unter ihnen so verdiente und seit Jahren bekannte Poeten, Prosaiker, Ästhetiker, Literaturwissenschaftler etc., wie Abraham Sutzkever, Mordechai Zanin, Hadasa Ribin, Issahar Fater, Zwi Ajsnman, Mischa Lew, Alexander Schpiglblat, Abraham Karpinowitsch, Rivka Basman, Jente Masch, Zwi Smoliakow u.a., wie auch Vertreter der Generation, die zur jiddischen Literatur erst vor 15 bis 20 Jahren hinzukam: Boris Sandler, Michael Felsenbaum, Mojsche Lemster, Welwl Tshernin, Zwi Kanar, Daniel Galaj, Aleksander Belousow u.a. Die israelische Gruppe der Schriftsteller ist heute nicht nur die größte in der jiddischen Welt, sondern – bedauernswerter Weise – viel größer als alle Literatur-Gruppen in allen übrigen "jiddischen" Ländern zusammen.  

Von den nicht-israelischen bedeutenden Literaten kann man heute nennen: Itzik Goldberg, Joni Fajn, Mosche Sklar, Haim Bejder, Bejle Schechter-Gottesman, Lea Robinson, Scholem Berger, Dow-Ber Kerler – in USA; Jehuda Elberg – in Kanada; Gennadij Estreich und Michail Krutikow – in England; Dawid Katz – in Litauen; Jechiil Schreibman – in Moldawien; Josef Burg in der Ukraine und noch einige weitere.  

                                                                              *  *  *

Am 16ten März 1996, 48 Jahre nach der Ausrufung des Staates Israel, wurde in diesem demokratischen Land ein Gesetz verabschiedet, das die jiddische Sprache und jiddische Kultur als Nationalschatz des jüdischen Volkes proklamierte – und dadurch die Wiederherstellung und das Aufblühen dieser Kultur garantieren sollte.  

Zwei Gründe gab es dafür – das Erhoffen einer anregenden Wirkung und das duldsame Zulassen. Der Grund duldender Zulassung war – dass zu dieser Zeit bereits keine Konkurrenz des Jiddischen mit dem Hebräischen mehr zu befürchten war: alles Jiddische – war tot oder befand sich schon im schweren Todeskampf.

Der Grund für das Erhoffen einer anregenden Wirkung war ein komplizierterer und erfordert eine Erklärung – und diese ist: die scharfe Krise in der allgemeinen hebräischen Staatskultur, wie auch – als Folge davon – in Moral, Rechtsordnung, Bildung, Wissenschaft, Sozial- und Sittenleben u.dgl. Diese Krise sah Kalman Katzenelson schon im Jahre 1960, in dem bereits oben erwähnten Buch "Krise des modernen Iwrit", voraus und verstand es erneut, sie Jahre später in einer aktuellen Lexik einfach und begreiflich zu artikulieren: "In unseren Tagen, da diese Krise in der (autochthonen) Ssabren-Kultur, in den Human- wie auch in den Naturwissenschaften schon für alle offenkundig ist, bewahrheiten sich leider die alten Prognosen. Aktuell formuliert: eine Sprache gleicht einem Computer. Hebräisch ist also ein kleiner Computer, und Jiddisch – ein großer. Die Schwäche des Hebräischen besteht im Fehlen von Verbindungen in Bezug zu anderen Sprachen, was zu Verkorkung, Isolierung, Marginalität führt, zu Provinzialismus. Die Aschkenasim waren bekanntlich polyglott, sie galten als Sprachenkenner, besonders was die europäischen Sprachen anbelangt. Einem Sabra, (in Israel Geborenem), aufgewachsen mit Iwrit, fallen europäische Sprachen – selbst das hier sehr populäre Englisch – schwer. Dann natürlich: besitzt du einen großen leistungsstarken Computer, so verbindest du dich leicht mit dem Informationsnetz anderer Computer. Und wenn du einen kleinen, einen schwachen hast...

Hebräisch formte und entwickelte sich schon vor Jahrtausenden, es war eine Sprache der Hirten und Bauern, denen jegliche Art von technologischem Interesse so fern lag. Benötigten sie stärkere Waffen – nahmen sie solche von den Philistern, wollten sie einen Tempel bauen – riefen sie die Phönizier. Worin sie genial waren – in Bezug auf Geistigkeit, im Begreifen des Einzigen Gottes und im Erfassen der Ideale der religiös-moralischen Existenz des Menschen und einer auf gerechter Gesetzesgrundlage basierenden Lebensweise der Gesellschaft. Sobald sie aber später in die anderen, mehr irdischen Tätigkeitssphären einzudringen begannen, wechselten sie zu anderen Sprachen über: Aramäisch, Griechisch, Arabisch, dann – auf europäische, und schufen schließlich eine neue Sprache für sich – Jiddisch, die mobilste und am meisten aktive von allen jüdischen Sprachen, mit einer reichen Geschichte und einem historischen Lebenshintergrund des Volkes in der europäischen Diaspora. Gerade die europäischen Juden – und keine anderen waren es, die das neue Land Israel praktisch aufzubauen und zu errichten begannen – die polnischen, rumänischen, russischen Juden, obwohl hier unter dem englischen Mandat auch andere und ökonomisch viel mächtigere Ethnogruppen lebten, z.B. die Bagdader Juden, die den größten Teil der Textilproduktion in Händen hielten...

Und, wenn also schon Russisch oder Deutsch abgelehnt wurden, – so hätte Jiddisch die Sprache des neuen Israel werden sollen ..."  

Diese Krise also bereitet heute vielen Intellektuellen in Israel, Ideologen, Pädagogen und sogar hochrangigen Militärs ernsthaft Sorgen und Kopfzerbrechen. Man analysiert den heutigen großen Mangel an Moral und Bildung bei (nicht nur) der jungen Generation, durchleuchtet die Ursachen des allgemeinen Desinteresses, man versucht zu verstehen, w a s man zusammen mit dem "verfluchten Galut-Nachlass" ausgeschüttet hat – mit der europäisch-aschkenasischen Mentalität, mit der tausendjährigen jiddischen Zivilisation.

In dieser Situation und als Folge dieser Situation wurde 1996 das schon erwähnte Gesetz wegen Jiddisch verabschiedet und eine spezielle staatliche Institution geschaffen, die, nebenbei bemerkt, einen streng bürokratischen Namen trägt: "Meluchische Instanz far jidischer Kultur", ("Staatliche Instanz für jiddische Kultur"), und die dieses neuste Gesetz realisieren sollte – die ein Budget vom Staat für die Förderung und Wiederbelebung der Jiddischen Kultur erhält, aber...  

Aber bis heute hat z.B. der jiddische Schriftstellerverband (wie auch andere jiddische Kulturträger) von dieser Instanz keinen einzigen Groschen in die Hände bekommen, weil diese Instanz, laut eigener Satzung, selbst zu bestimmen hat, welche Projekte und Veranstaltungen der Jiddischen Kultur es im Land geben soll, und allein d i e s e bezuschusst, finanziert oder selbst organisiert. So wurde auch die frühere bescheidene Aktivität der jiddischen Kulturgruppen paralysiert, denn – erstens: wer ist schon imstande mit dieser staatlichen Instanz zu konkurrieren? Und – zweitens: die kleinen Subventionen, die diese Gesellschaften vorher noch vom Bildungs- oder Kulturministerium, da und dort von einem Stadtrat oder einigen Institutionen erhielten, fallen heute fort, weil sie a l l e s ! – so heißt es – von dieser Instanz für Jiddische Kultur bekommen sollen.  

Oder, ein weiteres Beispiel: In Tel-Aviv existiert ein konkret ausgearbeiteter Plan (den man schon auf verschiedenen Sitzungen den jiddischen Kulturgesellschaften, die selbst ihre eigenen Klubs, Häuser und Kulturgebäude besitzen, unterbreitet hat): diese Gesellschaften sollen – alle zusammen – in ein ehemaliges Gymnasium mit vielen Klassenräumen umsiedeln und ihre eigenen Gebäude, die sie nicht mehr finanzieren können, (was aber die Allgemeinheit angeht!), der Stadt übergeben. So haben die jiddischen Schriftsteller jetzt die Wahl: entweder in ihrem legendären und prächtigen, aber mehr als 30 Jahre kein einziges Mal renovierten "Bejt-Lejwik" (Lewik-Gebäude) den ganzen langen Sommer über zu schwitzen und im feuchten Winter zu frieren, oder – in Kürze in das geweißte und beheizte KZ (Kultur-Zentrum) überzusiedeln...  

                                                                                  *  *  *

In einer Gettosituation befindet sich aber die jiddische Literatur schon seit einem halben Jahrhundert, nachdem sie den größten Teil ihrer Leserschaft verloren hatte – und der übrig gebliebene, kleinste Teil wurde mit der Zeit immer noch kleiner und kleiner. Heute hat ein jiddischer Schriftsteller schon fast überhaupt keine Leser mehr, und findet sich doch ein lesewilliger Jude, der noch bereit ist, ein Buch zur Hand zu nehmen, so ist es im Durchschnitt – ein Mensch von 80 Jahren, meistens erzogen in der traditionellen Thematik und Ästhetik der Vor- und Nachkriegszeit, der in keinster Weise darauf vorbereitet ist bzw. keinerlei Interesse daran hat, und auch keine Energie investieren will, die unbekannten Autoren zu lesen, die in den letzten 20 Jahren in der Literatur aufgekommen sind – warum auch soll sich der alter Jid mit der halb-hooliganischen Prosa eines Michael Felsenbaums oder, sagen wir, Scholem Bergers "japanischen" Whisky-Gedichte befassen?

Zu einer gewissen Entschärfung dieser Situation könnten Übersetzungen in andere Sprachen, vor allem ins Englische und Deutsche, beitragen: ins Englische – für die zahlenmäßig große junge Generation amerikanischer Juden, und ins Deutsche – um für den europäischen Leser die Stil- und Inhaltsnuancen des Originals optimal herüberzubringen.  

"Die erste Anthologie jiddischer Literatur der letzten Jahrzehnte", wie die Sammlung "Federmenschen" (Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 1996) vorgestellt wurde, ist eine schöne und thematisch verlockende Ausgabe, aber sie liefert nicht einmal in allerkleinster Bandbreite ein Spiegelbild unserer gegenwärtig aktuellen, täglich neu entstehenden Literatur, besonders was die Autoren betrifft, die noch nicht die Last der Lebensjahre mit sich herumschleppen, und die gerade heute genau die jiddische Literatur schreiben, die ihre Altersgenossen lesen sollten.  

Unsere Literatur des 20sten Jahrhunderts ist so reich, so viele Meisterwerke sind bislang dem nicht jiddischen Leser unbekannt, bevor man sie nicht nach 50 oder 100 Jahren herausgeben kann, – was aber sollen wir, die Lebenden und Schreibenden, tun?

Die deutschen Verlage zeigen nicht die geringste Spur von Interesse an unserer "unbekannten" jüngeren und auch mittleren Generation – sie wissen einfach nicht, dass noch so etwas auf dieser Welt vorhanden ist, und sind auch nicht allzu neugierig: einen Gewinn würde es sowieso nicht einbringen, da ist es schon empfehlenswerter, noch ein Buch von Itzik Baschewis Singer oder eine Gedichtsammlung von Mordechai Gebirtig herauszugeben.

Und die Literatur-Werbetrommler, deren Funktion es ist, gerade Verleger und Autor zusammenzuführen, haben eine feine Nase und verkünden z.B. solche "literaturwissenschaftlichen" Werbeparolen wie: "Israelische Literatur ist hebräische Literatur, auch wenn es einige Schriftsteller gibt, die nach wie vor in ihrer jeweiligen Muttersprache schreiben: Deutsch, Polnisch, Russisch, Arabisch." ("Alt-Neuland einer Sprache" in: Die Buchwoche. 9. Internationale Frühjahrsbuchwochen in München. Ausgabe März 1998.)

Die jiddische Literatur wird, wie Sie sehen, in diesem Postulat überhaupt nicht erwähnt – eine solche gibt es gar nicht!

Inwieweit kann man aber ernstlich solche Experten beschuldigen? – denn ... im Bewusstsein der offiziellen israelischen Kultur-Bürokraten, mit denen es die profilierten Verlage im Ausland auf die eine oder andere Weise zu tun bekommen, ist, wie gesagt, keinerlei jiddische Literatur vorhanden, bestenfalls – ein paar persönlich anerkannte Namen, wie der 1969 verstorbene Itzik Manger oder der 1913 geborene Abraham Sutzkever. Na ja, aber woher wissen sie das, die Bürokraten, – dass keinerlei jiddische Literatur existiert? Das wissen sie von den israelischen Professoren, Kunstgelehrten, Ideologen, Verlegern und einigen hebräischen Schriftstellern. Mir persönlich erklärte dieses – dass es heutzutage keinerlei jiddische Literatur mehr gibt – einer der angesehensten Literaturwissenschaftler im Land, Professor Klug, mir dabei in die Augen blickend und ausgerechnet auf Jiddisch!

Aber andererseits – vielleicht haben sie alle Recht? Vielleicht sehen sie das Problem ja aus erhöhter Perspektive unter so was wie einem neuen, nicht minder wichtigen Blickwinkel, sagen wir, in einem historisch-patriotischen Zusammenhang, von einer Art geopolitischen Standpunkt aus? Z.B.: Arafat darf nicht wissen...  

Die Wahrheit gesagt, glaube ich nicht, dass ein ernsthafter amerikanischer Literaturwissenschaftler – es sei denn, er wäre Slawist von Beruf, – heute eine Übersicht schreiben würde bezüglich so was wie russischer Literatur in den USA, wenngleich viele russische Schriftsteller, darunter zwei von fünf russischen Nobelpreisträgern der Literatur, dort gelebt und ihre wichtigsten Werke geschrieben haben – Alexander Solschenizyn und Josef Brodsky.  

Analoges gilt auch für den ersten russischen Nobellaureaten, Iwan Bunin, der die letzten 33 Jahre seines Schriftstellerlebens als Emigrant in Frankreich verbrachte und während dieser Zeitperiode den hohen Preis verliehen bekam – er war und bleibt für immer dort ein Vertreter einer ausländischen Literatur.

Aber im Vergleich zu der, beispielsweise, russischen Exilliteratur ist die jiddische Literatur in Israel, wenn sie auch in einer der beiden authentisch j ü d i s c h e n Sprachen geschrieben wird, in viel stärkerem Maße heimlos, weil es kein anderes Land oder Gebiet auf der Erde gibt, das für sie, für unsere Literatur, als Kulturmetropole in Betracht käme, – irgendeine Sprachmetropole, wo es immer für die emigrierten Schriftsteller ein Leserpotential gab und wo ihre Werke eine Chance hatten, mehr oder weniger, früher oder später gelesen und bekannt zu werden. Die jiddische Literatur ist heute heimatlos, obdachlos und hoffnungslos im Bezug auf einen wenigstens hypothetischen jiddischen Massenleser.

Dieser Mangel an Massenlesern wirkt auf unsere Literatur absolut zerstörerisch – so gibt es, faktisch, bei uns keine Literaturkritik, welche sich – schon laut ihrer Definition – an den allgemeinen nationalen Leser wenden sollte, und ohne deren Spiegel eine Literatur die sozial-gesellschaftliche Orientierung und allmählich auch die Skala der ästhetischen Werte verliert und in allen Genren ihre Schleusen dem uferlosen Strom von amateurhaften und graphomanischen Machwerken öffnet.  

Die jiddische Literatur, ihre Sprachstruktur, Semantik, Stilistik, Psychologie und Mentalität gehören zur europäischen Geistsphäre, wo ihre unmittelbare Verwandte – die klassische und moderne deutsche Literatur beheimatet ist. Wenn Europa d a s einmal versteht und so etwas wie einen Versuch unternehmen will, unsere Literatur zu retten, so muss das vor allem von Deutschland ausgehen und in Deutschland geschehen. Gerade in Deutschland – wollen wir uns in diesem Kontext erinnern – entstand in den Weimarer Jahren ein umfangreiches Netz jiddischer Verlage, Zeitschriften und Zeitungen, wie "Klal-Farlag", "Ulschtejn-Farlag", "Jiddischer Literarischer Farlag", "Wostok-Farlag", "Schweln-Farlag", "Funken", "Rimon", "Milgrojm", "Gejendik", etc. In diesen Jahren haben in Deutschland lang oder kurzfristig gelebt, geschrieben, ihre Werke herausgegeben: Perez Markisch, Dawid Hofstein, Dawid Bergelson, Der Nister, Lejb Kwitko, Mojsche Kulbak, Chaim-Nachman-Bialik, Mark Chagall (der nicht nur Maler war, sondern auch dichtete, und zwar auf Jiddisch), und viele andere unserer bekannten Schriftsteller. Berlin war einer der wichtigsten und entwickeltsten Mittelpunkte der jiddischen Weltliteratur – ein wirklich einmaliger Zeitabschnitt, der sich nicht mehr wiederholen kann. Etwas aber könnte doch auch noch heute wieder initiiert werden.

Eine unbedingt wichtige Sache (für einen Anfang und gleichzeitig vielleicht als Test) wäre es, z.B. ein periodisches Magazin ("Jiddischer Meridian", "Pontons" o.dgl.) in einer lateinisch-deutschen Transkription herauszugeben, in dem, wie ich es schon 1994 in Deutschland und in klarem Deutsch öffentlich formulierte, "Historiker, Folkloreforscher und Schriftsteller deutscher, polnischer, rumänischer, russischer Herkunft sich als eine europäisch orientierte Einheit entdecken könnten ..." Solch eine Zeitschrift hätte den jiddischen Literaten einem breiten Publikum vorstellen können und – was nicht weniger wichtig ist – dem Literaten seinerseits ein Publikum, dessen Ansprüche hinsichtlich moderner Kunst und Kultur sich an einem weltweit angenommenen Niveau – ich will nicht sagen Standard – orientieren.

Nach Deutschland – gäbe es einen Gegenwunsch – hätte vielleicht der Jiddische P.E.N.-Club (ja, es gibt einen solchen!) aus New York übersiedeln können, dort lässt sich nämlich kaum noch von einer wirklichen Tätigkeit, der dortigen literatur-demographischen Lage wegen, sprechen. Während meines Besuchs in den U.S.A. vor 3 Jahren haben sogar ältere jiddische Schriftsteller (sehr vorsichtig) davon gesprochen, ich erhielt auch ähnliche Briefe aus Kanada...

Was aber könnte heute dazu z.B. das neu entstehende Zentrum der verfolgten Künste in Wuppertal sagen?

Begreiflich, dass die zivilisierte Welt heute mehr akut aktuelle Probleme und Sorgen hat, -– aber während sie einen globalen Kampf gegen den Terror führt, vergisst die aufgeklärte Menschheit daneben nicht die Tiere und Pflanzen der Roten Liste zu verteidigen und die ausgestorbene Inka-Kultur weiter zu erforschen. Soll diese Menschheit auch bestimmen, ob sie die noch atmende und zuckende jiddische Kultur auf dem Planet haben will. Doch viel Zeit darüber nachzudenken gibt es schon nicht mehr...
                                                                                                                        Akko, Dezember 2001

                                                                                                              Aus dem Jiddischen: Melitta Depner



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                                                                                                                                     Lev Berinski


                                       NACHT DER ERMORDETEN DICHTER
                                                               12.08.1952
                                                       
                                                                         Lieber Freund,
 
was ich Sie hier fragen will, hat nicht direkt etwas mit unserem heutigen Thema zu tun – und doch: wann, in welchem Jahr, Monat und Tag starb Rainer Maria Rilke?  Erich Maria Remarque? Thomas Mann? Stefan Zweig? Bertolt Brecht? Heinrich Böll?...
 
Wenn Sie kein diplomierter Literaturhistoriker sind, müssen Sie in einem Lexikon blättern, nicht wahr? Für einen jiddischen Leser aber, der auch nur oberflächlich in der jiddisch-sowjetischen Literatur orientiert ist, wären das keine echten Fragen: die Geburtsdaten – vielleicht schon, aber der Todestag der führenden jiddischen Schriftsteller? Der ist gar einfach zu behalten, bitte:       
                                                      
David Bergelsson – 1884 - 12.08.1952
                                                      David Hofstein     – 1889 - 12.08.1952
                                                      Lejb Kwitko          –   1890 - 12.08.1952
                                                      Perez Markisch   –   1895 - 12.08.1952
                                                      Itzik Fefer             –   1900 - 12.08.1952

 
“Nacht der ermordeten Dichter” – das ist keine flammende Metapher aus einem Requiem, sondern ein trockener Begriff in der jiddischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Und nicht nur diese fünf Hervorragenden wurden jene Nacht auf der Moskauer Lubjanka, in der schrecklichen KGB-Residenz, erschossen, und nicht nur am 12. August 1952, als zusammen mit diesen weltbekannten Schriftstellern auch der Literat Schmuel Persow seinen Tod fand. Etwas früher oder später wurden ermordet oder starben in Gefängnissen der große Prosaiker Der Nister (1884-1950); die Literaturwissenschaftler E. Spiwak (1890-1950) und Izhak Nusinow (1889-1951), der Dramatiker und theaterkundige Jeheskel Dobruschin (1883-1953), und  allen voran – der in einer inszenierten Autohavarie getötete geniale Schauspieler Schlojme Michoels (1890-1948).                                                                                   

                    NACHT DER ERMORDETEN DICHTER. PEREZ MARKISCH

 
Markisch, Perez, geboren 1895, Polonnoje, Ukraine, – erschossen 12.8.1952,   Lubjanka, Moskau.  Jiddischer Dichter, Romanschriftsteller und Dramatiker.
              
                                                                                                          Perez Markisch
                                                                         *  *  *
 
                                           Wachen morgens auf, verschlafen, die Fluren,
                                           strecken sich aus,
                                           zerdehnen sich ganz groß
                                           und nehmen ihre Decke ab...

 
                                           Erblicken, fern, in Nebel eingehüllt,
                                           auf weiten Strecken – schräge Schoberreihen,
                                           entlaufne Figuren ...
 
                                          Senkt sich still auf sie herab,
                                          von allen Seiten, klar und jung,
                                         die taufrisch kalte Dämmerung...
                                         und schläfert still sie wieder ein...
 
                                         Doch immer kommt von irgendwo
                                         das Lüftchen des Frühmorgens mild,
                                          mit abgehacktem Hahnenschreien,
                                          mit Fetzen Brüllen einer Kuh
                                          und raunt den Fluren ein,
                                         der Blätter Sehnsucht aufeinander sei noch ungestillt...
 
                                                                                                                                                1917
                                                                                                      Ins Deutsche: Melitta Depner
                                                                            
                                                                               
*  *  *

Perez Markisch ging als Kind in den Chejder[1] und zu Hause unterrichtete ihn  sein Vater, der Melahmed[2] war. Sehr jung verließ er das elterliche Heim, versuchte sich als Chorist in der Berditschewer Synagoge, ging dann nach Odessa, wo er sich mit Gelegenheitsverdiensten durchschlug. 1912 begann er  zu dichten – auf Russisch. 1916 wurde er an die Front geschickt und dort verwundet. Nach der Demobilisierung 1917 kam er nach Ekaterinoslaw, wo er später seine ersten jiddischen Gedichte und Erzählungen in der örtlichen Zeitung “Kemfer” veröffentlichte. 1918 nahm er in dem Almanach “Ejgns” ("Das Eigene”) teil und kam in Kontakt mit der Kiewer Gruppe Lyriker, zu der auch D. Hofstein und L. Kwitko gehörten und zwischen welchen Perez Markisch der jüngste war.
 
In seinem ersten Buch “Schweln” (1919) zeigte er sich als energisch-expressiver Poet, der mit heißem Pathos nach Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens strebt. 1920 erschienen (in Ekaterinoslaw) drei weitere Lyriksammlungen von ihm, und 1921 das Poem “Wolin” (es kam in Wilna heraus), das ihm einen Platz in der ersten Reihe der jiddischen Dichter einbrachte, 1922 – das Poem “Kupe” (“Haufen”), in dem der Poet in makabren Bildern die antijüdischen Massaker in den Jahren des Bürgerkriegs in der Ukraine beschrieb. 1921 reiste er nach Polen aus, lebte dann in Frankreich, besuchte Deutschland, England, Erez-Israel, trat mit Vorträgen über moderne Dichtung auf, mit Lesungen eigener Gedichte, beteiligte sich als Autor an verschiedenen Almanachen, veröffentlichte Essays und literaturkritische Artikel, brachte  (gemeinsam mit Uri Zwi Grinberg und Melach Rawitsch) zwei Ausgaben des avantgardistischen Almanachs “Chaljastre” heraus (N1 – Warschau, 1922; N2 – Paris, 1924). Dieser Almanach und die gleichnamige Bewegung seiner Herausgeber waren eine unikale Erscheinung in der Geschichte der jiddischen Literatur – wollen wir also diesem Phänomen ein paar Zeilen hier widmen.
 
Das Wort  “Chaljastre” kommt aus dem Polnischen und bedeutet “die Schar” oder  “die Bande”. Es wurde als Selbstbezeichnung gewählt von einer Gruppe jiddischer Poeten – Expressionisten und Futuristen – in Warschau, Anfang der 20er Jahre. An der Spitzte der Bewegung standen die schon erwähnten Perez Markisch und Uri Zwi Grinberg, wie auch der Dichter und Essayist Melach Rawitsch; bekannte "Penmenschen" aus anderen Regionen schlossen sich an, wie z.B. David Hofstein, der damals in Moskau und etwas später in Berlin lebte, oder Mosche Haschtewadski und Itzik Kipnis von Kiew. Die Gruppe stand auf einer sehr breiten ideologischen und ästhetischen Plattform, was solchen verschiedenartigen Persönlichkeiten Raum bot und die Zusammenarbeit ermöglichte wie Israel Singer (der ältere Bruder des künftigen Nobelpreis-Trägers), Oser Warschawski und Mark Chagal, der damals  auf Jiddisch dichtete und sein autobiographisches Buch in Prosa auf Russisch schrieb, das viele Jahre später in Amerika und Europa unter dem Titel “Mein Leben” einen großen Erfolg hatte. Auch ein zweiter Almanach wurde herausgegeben – der “Albatros”  (N1 – Warschau, 1922, N2 – Berlin, 1923), der als “Ausgabe des extrem poetischen Individualismus“ proklamiert worden war. Mit Begeisterung oder Zorn wurden solche Bücher von den Chaljastre-Autoren aufgenommen wie “Nakete Lider” von Melach Rawitsch(1921), “Mefisto” (1922) von Uri Zwi Grinberg, “Di Kupe” (“Haufen”, 1922) von Perez Markisch, – in welchen die neuen Sprachmittel: explodierende Exaltation und “Revolution des Geistes”  in voller Kraft und vollem Umfang ihren Ausdruck fanden. Nachdem aber Uri Zwi Grinberg 1925 nach Erez-Israel ausreiste, löste sich die Bewegung allmählich auf, und Perez Markisch kehrte 1926 in die Sowjetunion zurück und ließ sich in Moskau nieder, wo er einer der aktivsten sowjetischen Schriftsteller wurde. Er schrieb solche sozialpolitisch orientierten Werke, wie die Romane "Dor-ojs, Dor-ajn“ ("Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt“, 1929), "Ejns-af-ejns“ ("Mann gegen Mann“, 1934), das epische Poem "Brider“ ("Brüder“, 1. Buch – 1929,  2. Buch – 1941), die Lyrik-Bücher "Farklepte Ziferblatn” (1929) und "Foterleche Erd” (“Väterliche Erde”, 1938), ein Buch mit Theaterstücken (1933), eine Monographie "Michoels” (1939) etc. Das Leitmotiv, das Pathos und die Hauptidee der Werke dieser Periode war  – die Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens.
 
1939 wird Perez Markisch Kandidat (ab 1942 – Mitglied) der Kommunistischen Partei; er wird auch mit dem höchsten Leninorden ausgezeichnet, gleichzeitig aber durch die sowjetische Literaturkritik (vor allem – vom jiddischen “proletarischen” Kritiker M. Litwakow) für “nationale Beschränktheit” kritisiert.
 
Die Theaterstücke von Perez Markisch wurden in zwei Sprachen aufgeführt – in Jiddisch und Russisch, das waren “Di erd”, “Nit gedajget” (“Nicht verzagen”, 1930) und “Mischpoche Owadis” (“Die Familie Owadis”, 1937). 
 
In der Periode der “Freundschaft” der Sowjetunion mit dem deutschen Nazi-Reich schrieb Perez Markisch sein Poem “Tenzern fun Getto” (veröffentlicht erst 1942) und begann 1941 das epische Poem “Milchome” ("Der Krieg”, veröffentlicht 1948) zu schreiben – das erste Werk solch breiten Umfangs über den Kampf mit dem Faschismus. 
 
Sein Roman “Trot fun Dojres” (“Der Gang der Generationen”, 1948) – über den Heldenmut der Kämpfer des Warschauer Gettos – wurde in der Sowjetunion erst 1967 in gekürzter Form und sinnentstellt veröffentlicht.
 
Perez Markisch war Mitglied des “Antifaschistischen jüdischen Komitees”, dessen führende Vertreter 1952 auf einem geheimen Prozess einer politischen Verschwörung beschuldigt worden waren: diese sollten, hieß es, zum Ziel gehabt haben, die Krim von der UdSSR abzutrennen, um sie in eine selbständige jüdische Bourgeoisie-Republik zu verwandeln, die als Aufmarschgebiet der Feinde der Sowjetunion dienen sollte. Die Folgen dieses absurden Deliriums ließen nicht lang auf sich warten: gemäß dem Urteil vom 18. Juli 1952 des Obersten Gerichtshof der UdSSR  wurden am 12. August  desselben Jahres 24 Menschen – fast alle bedeutende Vertreter der jiddischen Kultur und  Öffentlichkeit – erschossen (man sollte aber wahrscheinlich vermuten, dass in diese allgemeine Zahl der Verurteilten auch jene Opfer eingerechnet seien, die während des Prozesses in Gefängnissen und Lazaretten starben)[3].
 
In der Jiddischen Literatur des 20. Jahrhunderts ist Perez Markisch einer der größten und tragischsten Autoren, obwohl seine Dichtung  von Anbeginn und fast  in allen seinen Werken optimistisch, lebensdurstig und voller Hoffnung war.


[1] Jüdische Elementarschule

[2] Lehrer einer jüdischen Elementarschule

[3] In einer Liste der vernichteten Vertreter der jiddischen Kultur in der Sowjetunion, die durch den jiddischen Kultur-Kongress in New York erstellt wurde, sind insgesamt 450 Namen von 238 Schriftstellern, 106 Schauspielern, 19 Musikern und 87 Malern und Bildhauern genannt.
 
                                                                                                                 Aus dem Jiddischen: Melitta Depner  


​                                                                                                                                                       
                           NACHT DER ERMORDETEN DICHTER. DAVID HOFSTEIN
 
Hofstein, David, geboren 1889, Korostischew, Ukraine, - erschossen 12.8.1952,  Lubjanka, Moskau. Jiddischer Dichter.
 
David Hofstein war der Sohn eines Ackerbauern. Als Kind wurde er im Chejder[1] und von privaten Hauslehrern ausgebildet. Während des Militärdienstes (1912-13) legte er die gymnasialen Abschluss-Prüfungen als Externer ab, wurde jedoch wegen der Prozentnorm (Numerus clausus)[2] nicht an der Universität aufgenommen und ging zum Studium an das Kiewer Kommerz-Institut.
 
Mit 9 Jahren begann er zu dichten – zuerst auf Hebräisch, später auf Russisch und Ukrainisch und erst als Zwanzigjähriger auf Jiddisch. 1917 debütierte er mit jiddischen Gedichten in der Kiewer Zeitung „Naje Zajt“ und empfand die russische Oktoberrevolution als Verwirklichung der alten biblischen Ideale von Gerechtigkeit. Seine erste Lyriksammlung „Baj Wegn“ erschien in Kiew 1919. Zugleich mit Perez Markisch und Lejb Kwitko gehörte er zu den drei Grundsteinlegern der sowjetischen jiddischen Dichtung. 1920 siedelte er nach Moskau über, und betätigte sich als Redakteur und Herausgeber einer Reihe von Almanachen und Zeitschriften, wie „Ejgns“, “Schtrom” u.a. 
 
Die jüdischen Pogrome in der Ukraine riefen bei ihm solche zornigen Gedichte voller Enttäuschung hervor, wie z.B. „Tristia“ und „Ukrajne“ aus seiner Sammlung „Trojer“ – erschienen 1922 mit Illustrationen von Mark Chagall. Ein Jahr später kamen seine ausgewählten Werke unter dem Titel „Lirik“ heraus, die von diesem Dichter als einem der größten jiddischen Poeten in der Weltliteratur zeugten.
 
1924 unterschrieb er, neben anderen, den Protest gegen Verfolgungen der hebräischen Sprache in der Sowjetunion, was bewirkte, dass er danach selbst in seiner Tätigkeit diskriminiert wurde und nach Berlin ausreiste.
 
1925 kam er nach Erez-Israel, schrieb und veröffentlichte Gedichte auf Hebräisch, kehrte aber im Frühling 1926 nach Kiew zurück, um dort wieder auf dem Gebiet der jiddischen Literatur aktiv zu werden. 1929 beschuldigte man ihn in „kleinbürgerlichen Ansichten“ (in Zusammenhang mit seinem Protest gegen die Verfolgung von Lejb Kwitko) und schloss ihn vom sowjetischen Schriftstellerverband aus. Während des 2. Weltkrieges trat er dem jüdischen antifaschistischen Komitee als aktives Mitglied bei und betätigte sich auch wieder in der jiddischen Sektion des Schriftstellerverbandes.
 
Er übersetzte ins Jiddische aus den russischen, ukrainischen und grusinischen Klassikern (Alexander Puschkin, Taras Schewtschenko, Schota Rusthaweli) sowie aus der allgemeinen sowjetischen Dichtung.
 
Am 6. September 1948 wurde David Hofstein arretiert und am 12 August 1952 zusammen mit anderen jiddischen Dichtern hingerichtet.  
 
Seit 1987 existiert in Israel der David Hofstein-Preis, einer der zwei wichtigsten Auszeichnungen (zugleich mit dem Itzik Manger- Preis) in der jiddischen Literatur[3].


                                                                                     *  *  *
                                                                                                                                 David Hofstein 
                                                                                   
                                                                       Ukraine

                                                                                    (Fragment)
 
                                                                       Ich drückte mir                   
                                                                       zwei visavis gelegne Fenster
                                                                       vom Wagon
                                                                       auf meine durstigen             
                                                                       schon fieberigen Blicke...
 
                                                                       Ich wandre wieder
                                                                       über eure nackt
                                                                       zerbreiteten, zerdehnten Felder
                                                                                                                        der Ukraine....
 
                                                                       Mit heißem Gleichmut
                                                                       sieht sie
                                                                       taumelnd steigen      
                                                                       Oasen rings aus meinen Trümmern,
                                                                       auf weiter Fläche sanfter Felder,
                                                                       still mit Dung bestreut
                                                                       der Sehnsucht,
                                                                       reich befeuchtet
                                                                       durch mein Blut....
 
                                                                                                                              Deutsch: Melitta Depner
 
                                                                            *  *  *                                                                                                                                                                                                      Fejge Hofstein (Die Frau des Dichters)
 
                                                Aus dem Buch "Mit Liebe und Schmerz" 

David war der erste der jiddischen Schriftsteller, die man 1948 arretierte. Nach eineinhalb Monaten transportierte man ihn von Kiew nach Moskau. Ich fuhr gleich hinterher. Am selben Abend begegnete ich zufällig Perez Markisch auf der Strasse. Er versuchte, mich zu trösten, und versicherte mir, dass man in Moskau alles aufklären und David freilassen werde. Gerne hätte ich es geglaubt, aber mit einer Art siebtem Sinn nahm ich wahr, dass Markisch selbst daran zweifelte.
                                                 Nach Erhalt der Antwort im KGB ging ich wieder.
 
Ich wandere durch die Moskauer Straßen mit einem kleinen Ranzen in der Hand und weiß nicht wohin. Bei wem soll ich übernachten? Zur Zeit bin ich nirgendwo ein erbetener Gast. Und auch zu meiner Tochter Lewia, die in Moskau wohnt, kann ich nicht hingehen. Ihre Nachbarn wissen von gar nichts, und sie sollen mich dort nicht sehen. In Moskau habe ich also nichts mehr zu tun. Ich könnte nach Kiew zurückkehren.
 
Einmal im Monat habe ich jedoch tatsächlich in Moskau was zu tun. Gleich von der Bahn aus fahre ich jedes Mal ins Lefortow-Gefängnis, um die für Hofstein bestimmten 200 Rubel zu übergeben. Für die nämliche Summe kann der Arrestant sich im Gefängnis Esswaren kaufen.
 
[...]
 
Nachdem ich das Geld abgegeben habe, entferne ich mich nicht weit. Dort neben dem Gefängnis bin ich ihm dennoch nahe. Ich wende mich in eine Seitenstrasse. Von dort kann man das fünfstöckige Gebäude sehen. Ich gehe umher, schaue und suche, ich will das Fenster finden, Davids Fenster...
 
 
                                                                                                               Aus dem Jiddischen: Melitta Depner
 
 


[1] Jüdische Elementarschule
[2] Im 19. Jhdt. wurde ein gegen die Juden gerichteter NC vor allem in Russland, und zwar hauptsächlich im Unterrichtswesen, eingeführt.
[3]  Lev Berinksi erhielt den David Hofstein-Preis 1997 (Anmerkung der Übersetzerin).
 
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                                     NACHT DER ERMORDETEN DICHTER . iTZIK FEFER
 
Fefer, Itzik, geboren 1900, Spola, Ukraine, – erschossen 12.8.1952 Lubjanka, Moskau. Jiddischer Dichter.
 
Als Kind wurde Itzik Fefer zuhause vom Vater ausgebildet, welcher Schullehrer war. Mit 12 Jahren begann er in einer typographischen Werkstatt als Setzer zu arbeiten. 1917 trat er dem Bund bei, 1919 der kommunistischen Partei. Im selben Jahr debütierte er mit Gedichten in der Kiewer jiddischen Zeitung "Komunistische Fon" ("Kommunistische Fahne") und freundete sich an mit den jiddischen Schriftstellern D. Bergelson, L. Kwitko und D. Hofstein. Seine Gedichte, Poeme und Artikel, die er in der damals vielfältigen jiddischen Presse veröffentlichte ("Jugnt", "Naje Zejt", "Folks-Zejtung", "Schtern", "Ukraine", "Proletarische Fon" u.a.), machten ihn in der ganzen jiddischen Literatur bekannt. Liebesgedichte und epische Motive in seiner Dichtung sowie Komsomol-Publizistik folgten einander im Wechsel. In den 20er Jahren erschien eine Reihe seiner Bücher: "Schpener" ("Späne"), 1922; "Wegn sich un asojne wi ich" ("Über mich und solche wie mich"), 1924; "Proste trit" ("Einfache Tritte"), 1925; " A schtejn zu a schtejn" ("Stein an Stein"), 1925; ect. Seine Werke wurden auch in verschiedenen jiddischen Ausgaben in Europa und Amerika publiziert.

1939 verlieh ihm die Sowjetregierung für seine Schöpfung und Tätigkeit den "Ehrenzeichen"-Orden, 1940 – den Lenin-Orden. Zwischen 1930 – 1940 erschienen jedes Jahr neue Bücher von ihm. Die wichtigsten waren: "Plastn" ("Schichten"), 1932; "Zwischn himl un ajs" ("Zwischen Himmel und Eis"), 1934; "Lebn sol dos lebn" ("Es lebe das Leben"), 1934; "Kraft", 1937; und viele andere.
Fefer hat auch aus dem Ukrainischen ins Jiddische übersetzt und schrieb für das Theater.
Anfangs des zweiten Weltkriegs wurde er Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees. Im Sommer 1943 unternahm er zusammen mit dem berühmten jiddischen Schauspieler und Regisseur Schlojme Michoels im Auftrag der Sowjetregierung eine propagandistische Reise durch viele Städte der USA, Kanadas, Mexikos und Englands zum Zweck, Finanzmittel zu sammeln.

Seine Bücher aus dieser Periode waren einem höchst aktuellen Thema gewidmet: "Milchome-balades" ("Kriegsballaden"), 1943; "Hejmland" ("Heimat", mit Zeichnungen von Marc Chagall), 1944; "Schotns fun Warschewer geto" ("Schatten des Warschauer Gettos"), 1945; und das weltberühmt gewordene Gedicht "Ich bin a Jid" ("Ich bin ein Jude"), 1944, mit der damals echten Schlagzeile: "Ich werd' auf Hitlers Grab noch tanzen – ­ich bin a Jid!"
Ab 1946 lebte Itzik Fefer in Moskau. 1948 wurde er, wie auch andere aktive Vertreter der jiddischen Kultur, arretiert. Aber bevor noch die KGB-Chefs diese Kampagne begannen, engagierten sie (laut der in den 90er Jahren durch den KGB zugänglich gemachten Dokumente) Itzik Fefer – der ihr vieljähriger Geheim-Agent werden sollte, was ihm später nicht geholfen hat – auch für diese Kampagne: er wurde beauftragt, sich selbst als antisowjetisch tätig zu verleumden und gegen Mitglieder des Antifaschistischen Komitees und gegen Arbeiter des Sowjetischen Informations-Büros falsche Anklagen zu erheben. Auch er selbst wurde dann des "extremen Nationalismus" beschuldigt, und vergebens suchte er sich zu verteidigen. Hier ein Fragment aus dem dokumentarischen Artikel des jiddischen Literaturforschers Chajim Bejder (New York, ehemals Moskau) "Itzik Fefer beginnt einen Streit mit den Richtern" (in: "Wortbild" Num.1-b, Tel-Aviv, 2000) – 

Vorsitzender:  Sie propagieren die ausschließlich nationalistische Idee, dass mehr als alle andern die Juden gelitten haben.
Fefer:  Ja, ich bin der Meinung, dass das Schicksal des jüdischen Volkes ausschließlich mit Leiden verbunden ist.
Vorsitzender:  Wie denn? Nur das jüdische Volk hat während des Krieges gelitten?
Fefer:  Ja. Sie werden kein anderes Volk finden, das so gelitten hat, wie das jüdische. Von 18 Millionen Juden sind 6 Millionen vernichtet worden – ein Drittel. Das ist ein großer Aderlass, und wir hatten das Recht auf eine Träne, wir haben auch gegen den Faschismus gekämpft.
Vorsitzender: Das ist ausgenutzt worden nicht einer Träne wegen, sondern für antisowjetische Tätigkeit. Die Organisation wurde ein Zentrum des nationalistischen Kampfes.
[...]
Fefer: Ich muss vor dem Gericht hier sagen, dass, falls ich im Rahmen meiner gesellschaftlichen Tätigkeit tatsächlich ernste nationalistische Momente hatte, so hat es mein schöpferisches Werk am allerwenigsten berührt. Mein Werk leidet nicht darunter. Bei mir gab es einzelne nationalistische Fehler, zum Beispiel, das Gedicht "Ich bin a Jid", das hier behandelt wurde.
Vorsitzender: In Ihrer Dichtung wenden Sie sich an solche uralten Gestalten, wie "Das Haar Samsons, des Helden", "Bar-Kochbas Ruf", "Die weise Runzel des Rabbi Akiwa", "Salomos Wunder-Klugheit" u.dgl.
Fefer: [...] Aber ich habe doch auch davon gesprochen, dass wir aus Stalins Bechern getrunken haben, und davon, dass die Slawen unsere Freunde sind.
 
Am Ende des Prozesses, als Itzik Fefer verstand, dass auch er unvermeidlich zum Tode verurteilt werden würde, zog er seine früheren Anklagen gegen die Kollegen teilweise zurück und deklarierte: "Mich freute dass die Juden, von den Vorfahren Mussolinis aus Palästina vertrieben, dort wieder einen jüdischen Staat errichtet haben".
 
Es war zu spät. Solch ein Schicksal...
 
In diesem allgemeinen Kontext klingt Itzik Fefers Gedicht, das wir hier ans Ende stellen, wie ein verzweifelter Versuch, vor der Zukunft sein Leben zu rehabilitieren:
 
                                                         Epitafie
 
                          S'hot jeder Mentsch a Trojm, wos lebt mit im inejnem -
                          Amol wi heise Frajnd, amol wi kalte Schchejnim.
                          Ejn Trojm, ejn grojser Trojm baglejt mich in mein Gang,
                          Er lebt in mir, wi s'lebt majn Harts in majn Gezang:
                          Wen blajbn mit der hojler Erd wel ich alejn nor,
                          Wen s'wet der jidischer Besojlem meine alte Bejner ojfnemen,
                          Sol der Farbajgejer, bamerkndik majn Tsam,
                          Derzeendik dos Groz, wos hejbt sich fun mejn Stam,
                          A Zog ton far dem lebedikn Wint:
                         - Er iz gewen a Mentsch, er hot zajn Folk gelibt.
 
                                                                 Epitaph
 
                             Jeder Mensch hat einen Traum, der mit ihm lebt, vereint,
                             mal wie ein Nachbar kalt, mal wie ein heißer Freund.
                             Ein Traum, ein großer Traum, der immer mit mir zieht,
                             lebt in mir wie mein Herz lebt tief meinem Lied:
                             Wenn mit der hohlen Erde einst ich bleib allein nur,
                             wenn ich ins Judengrab gelange, dass es mein alt Gebein umfange,
                             soll, der vorübergeht, und meinen Zaun wird sehn,
                             wenn er das Gras erblickt, das dann am Stamm wird stehn,
                             es aussprechen vorm lebendigen Wind:
                              -   Er war im Leben Mensch, er hat sein Volk geliebt.
 
                                                                                                                                       (deutsch: M. D.)
                                                                                *  *  *
Auf der Gedenk-Stele, aufgestellt in Jerusalem zum Andenken an die erschossenen Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, ist auch sein Name eingraviert: Itzik Fefer.
 
                                                                                                                 Aus dem Jiddischen: Melitta Depner


                                                                                                                                            
                       NACHT DER ERMORDETEN DICHTER. DAVID BERGELSON 

Bergelson, David, geboren 1884, Ochrimowo, Ukraine, – erschossen 12.8.1952. Jiddischer Schriftsteller.  

Bergelson war der Sohn eines Korngroßhändlers. Er studierte im Chejder1. Schon als Halbwüchsiger las er viel aus der russischen und hebräischen Literatur und begann selbst in diesen Sprachen zu schreiben. 1909 veröffentlichte er auf Jiddisch, in Warschau, seine Erzählung „Arum Woksal“ („Um den Bahnhof“, 1917, deutsche Übersetzung Berlin 1922) und schrieb später ausschließlich in dieser Sprache, fortsetzend die sozial-problematische Tradition von Scholem Alejchem. 1910 erschien „Der Tojber“ („Der Taube“), eine von Bergelsons Erzählungen dieser Art. Bedeutenden Einfluss auf seine ersten Werke übte auch die psychologische französische Prosa aus, hauptsächlich Flaubert und Maupassant, z.B. in der Erzählung „Noch alemen“ („Nach alem“, 1913, deutsch unter dem Titel „Das Ende vom Lied“, Berlin 1923), der ein großer Erfolg beschieden war, und die in der Kritik zu den größten Errungenschaften der jiddischen Prosa gezählt wurde. Stilistisch entfernte sich Bergelson von der jiddischen Literaturtradition schon in seiner frühen Prosa, und gilt als der erste Impressionist innerhalb der Literatur auf Jiddisch. Zum Hauptthema seiner Werke wird das „geistige Streben der jüdischen intelligenten Jugend der russischen Provinz in der nachrevolutionären Zeit 1906–10“ (Jüdisches Lexikon, Berlin 1927).
David Bergelsons Aktivität erstreckte sich auch auf das jiddische Kulturleben, und 1917 wurde er zu einem der Gründer und Direktoren der „Jiddischen Kultur-Liga“. Redigiert von Bergelson, erscheinen die wichtigen Literatursammlungen „Ejgns,“ („Das Eigene“, 1918), und „Ojfgang“ („Aufgang“, 1919). 1921 lässt sich Bergelson in Berlin nieder, wo zu jener Zeit viele jiddische Schriftsteller lebten und wo er an den jiddischen Journalen mitarbeitete. Seine Werke veröffentlichte er oft auch in der New Yorker Zeitung „Forwerts“. In Berlin erschien 1923 eine jiddische Gesamtausgabe seiner Werke, und 1925 beginnt er hier die Zeitschrift „In Schpan“ („Im Gehen“) herauszugeben, in der er seine neuen ideologischen Neigungen äußert und bei den jüdischen Intellektuellen agitiert, und sie ermutigt, der Sache der Revolution zu dienen. 1926 besuchte er die Sowjetunion und erklärte sich als Sowjetschriftsteller, lebte aber noch einige weitere Jahre im Ausland. In diesen Jahren schrieb er in prosowjetischem Geist den Roman „Midas ha-din“ („Maßnahmen“, 1926) und die Sammlung Erzählungen „Schturm-Teg“ („Stürmische Tage“, 1927). 1934 ließ sich Bergelson in Moskau nieder, schrieb über das Leben der sowjetischen Juden: „Birobidshaner“ (1934), „Trot noch Trot“ („Schritt für Schritt“, 1938), den historischen Roman „Bajm Dnepr“ (1932-40) u.a.
Während des 2. Weltkrieges war Bergelson Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, schrieb und publizierte in der Zeitung „Ejnikajt“ („Einheit“). 1947 erschien die Sammlung „Naje Dertsejlungen“ („Neue Erzählungen“), die wieder an die besten Vorbilder seiner frühen Prosa erinnerten.

Im Januar 1949 wurde David Bergelson arretiert und am 12 August 1952 erschossen.   
 
                                                                                        *   *   *
                                                                                                     
                                                                                                                                 David Bergelson 

                                                                         Zwei Mörder                                                                                                                                                         (Fragment) 

Das pockennarbige Gesicht Anton Sarembos ist voller Trauer und Sehnsucht. – Trauer wegen der vielen, verflossenen Nächte der Besäufnisse, Trauer wegen ähnlicher Nächte, die ihm noch bevorstehen. Seine Augen, tief hinter geschwollenen Tränensäcken, sehen auf Tell. Die Geschichte mit dem blutbeschmierten Kind, das hier im Zimmer auf dem Fußboden lag mit durchbissenem Hälschen, erinnert ihn an viele ähnliche Geschichten in jenen jiddischen Städtchen der Ukraine, wo er mit seiner Bande gemordet und geraubt hat. Blut ... Blut in allen jiddischen Häusern, steigt in seiner Erinnerung auf, Blut auf der Gasse, wo sich zwischen zerbrochenem Glas, zwischen allen möglichen Lumpen und anderem jiddischen Sack und Pack blutbeschmierte Körper herumwälzen, ein Körper mit abgehacktem Kopf, ein Kopf mit gräulich-schwarzem Bart, und selbst ist man besoffen oder nüchtern, alle zusammen – er mit seiner ganzen Kompanie, und sei es, man ist nüchtern, sei es, man ist besoffen, nie hört man auf, das damals neue, in Mode gekommene Liedchen zu singen:
                                          “Äpfelchen, Äpfelchen! Wohin kullerst du...?”

Wegen seiner großen Traurigkeit und Sehnsucht will Anton plötzlich der geschwätzigen Wirtin erzählen, wie sich alles zugetragen hat. – Nicht? – fragt er wieder und wieder, - nicht wahr?
Die gutmütige und fleißige Deutsche hat große Schwierigkeiten, sein gebrochenes Deutsch zu verstehen. Ihr sind eine ganze Menge Dinge unverständlich, überhaupt ist ihr nicht verständlich, wer schuldig ist, und weshalb man Blut vergossen hat. Klar ist für sie nur das eine: Auch um ihren Logiergast haben sich auf dem Fußboden blutige Kinder gewälzt – eine Menge, eine Vielzahl blutverschmierter Kinder mit durchbissenen Hälschen.
– Nun, und ein Prozess? – fragt sie mit großem Interesse Sarembo, – fand ein Prozess statt? Sarembo schweigt. Frau Günther betrachtet sein pockennarbiges Gesicht, überlegt, und wiederum ist ihr da einiges überhaupt nicht klar. Plötzlich schickt sie sich an, zu gehen. Jetzt sind die beiden allein in der Küche zurück geblieben. – Sarembo und Tell. Der eine sitzt auf einem Stuhl neben dem Tisch, der zweite liegt auf dem kurzen Läufer, seinen Kopf auf den ausgestreckten Vorderpfoten. Es ist Mucksmäuschen still. Beide blicken einander in die Augen mit großer Trauer und Sehnsucht.
1 Jüdische Elementarschule
                                                                                                               Aus dem Jiddischen: Melitta Depner
 


                                                                                                                                                             
                                     
                                          NACHT DER ERMORDETEN DICHTER. LEIB KWITKO 

Kwitko, Lejb, geboren 1890 oder 1893, Goloskow, Ukraine, – erschossen 12.8.1952 Lubjanka, Moskau. Jiddischer Dichter.  

Lejb Kwitko, der schon früh seine Eltern verloren hatte, besuchte zunächst für kurze Zeit den Chejder (jüdische Elementarschule). Bereits im Alter von nur zehn Jahren begann er zu arbeiten, nahm wechselnde Tätigkeiten an, wurde Autodidakt und beherrschte recht bald die russische Sprache. Seine ersten Gedichte schrieb er mit 12 Jahren. Im Mai 1917 debütierte er in der jiddischen Zeitung "Dos fraje Wort", im selben Jahr erschien sein Kinderbuch "Lidelech" ("Liedchen"), und er ließ sich in Kiew nieder, wo er zusammen mit David Hofstein und Perez Markisch zu den Leadern der sogenannten "Kiewer Literaturgruppe" gehörte. Sein im Herbst 1918 verfasstes Poem "Rojter Schturm" war das erste Werk über die Oktoberrevolution in der jiddischen Literatur. Seine beiden nächsten Sammlungen "Tritt" ("Tritte", 1919) und "Lirik. Gajst" ("Lyrik. Geist", 1921) waren bereits viel weniger optimistisch und enthielten tiefe existenzielle, wie auch in der Ästhetik wurzelnde Reflexionen, was aber kein Verzichten auf Klarheit und reiche Volksidiomatik bedeutete, besonders in Kwitkos Gedichten für Kinder.
1921 emigrierte er nach Deutschland, lebte in Berlin und später in Hamburg. In Berlin veröffentlichte Kwitko seine Werke in den sowjetischen ("Schtrom", "Gejendik") und westlichen ("Milgrojm", "Zukunft") jiddischen periodischen Ausgaben. Hier erschienen seine Lyriksammlungen "Gringros" ("Grüngras", 1922) und "1919" (1923), gewidmet dem Thema der jüdischen Pogrome während des Bürgerkriegs. 

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                                                                                                                                             Lejb Kwitko 
 
                             Er hält wieder Ausschau  
 
                                                                Er hält wieder Ausschau,
                                                                der Sensenmann, Schnitter,
                                                                auf offenen Wegen. 
 
                                                                Mit Messing-Schallbecken,
                                                                und Pauken, verfluchten,
                                                                kommt er schon herein.
                                                                Sengt und behängt
                                                                mit Glutasche, Dornen
                                                                den nackten Leib von der Stadt.
 
                                                               Die Kinder befällt es
                                                               inmitten des Spieles.
                                                               Sie laufen mit Zittern
                                                               hinein von der Gasse,
                                                               die Ohrläppchen seiden
                                                               zerstochen und blutig,
                                                               von Glutasche rot.  
 
                                                               Hab' ich denn nicht gebeten:
                                                               "Kinderchen, wehrt euch,
                                                               ich weiß was das Trommeln verheißt!" 
 
                                                               Wie werden aus Häusern
                                                               in einem Moment nur
                                                               zertrümmerte Steine,
                                                               große und schwere! 
 
                                                               Verwaist nun...  
 
                                                               Ob drinnen noch atmet
                                                               das warme Gemüt?
                                                               In Häuserruinen –
                                                               das warme Gemüt?  
 
                                                                                                                   Aus dem Jiddischen: Melitta Depner

In Hamburg wurde Kwitko Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei. Er trug seine aktive Propaganda-Tätigkeit unter die Hafenarbeiter. 1925 flieht er nach Sowjetrussland zurück, um der Gefahr, arretiert zu werden, zu entgehen. In der jiddischen Zeitschrift "Die rojte Welt" veröffentlicht er seinen Zyklus Erzählungen über sein Leben in Hamburg "Riogrander Fel" ("Das Fell des Riogrande", 1926, und als besondere Ausgabe – 1928), eine autobiographische Erzählung "Ljam und Petrik", (1928–29) u.a. Für ihn war es eine sehr produktive Periode, allein im Jahre 1928 wurden von ihm 17 Bücher für Kinder herausgegeben. Er schrieb und publizierte auch satirische Gedichte, darunter das Gedicht "Der Schtinkfojgl Mojli" ("Der Stinkvogel Mojli"), in dem es um den bolschewistisch-jiddischen Publizisten und Literaturkritiker Mojsche Litwakow ging, der einer der wichtigsten Aktivisten der "Jewsekzie" ("Jewrejskaja Sekzia" - "Jüdische Sektion" der Kommunistischen Partei) war, und gegen die jüdische Religion und Tradition agierte und die jiddische Literaten aufrief, sich in ihren Werken auf die Seite und in den Dienst der Revolution zu stellen. Die "Jewsekzie" leitete eine Kampagne gegen "nicht-proletarische" jiddische Schriftsteller ein, Kwitko verlor seine Dienststelle in der Zeitschrift und wurde 1931 Werkarbeiter im Charkower Traktorenwerk. Nach 1932, als alle Literaturgruppen und Assoziationen liquidiert wurden, nahm Kwitko wieder eine Position in der jiddischen sowjetischen Literatur ein – aber hauptsächlich als Kinderschriftsteller. Ab 1939 wohnte er in Moskau, und seine Gedichte, herausgegeben in "Geklibene Werk" ("Ausgewählte Werke", 1937), entsprachen schon vollständig allen Normen des Sozialistischen Realismus: die strengste Zensur, wie bekannt, ist die Autozensur.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde Kwitko Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, Mitglied des Redaktionskollegiums der wich-tigsten jiddisch-sowjetischen Zeitung "Ejnikajt" und später – des Almanachs "Hejmland". 1941 erschien seine Lyriksammlung "Fajer af di Sonim" ("Feuer auf die Feinde"), 1947 – "Gesang fun majn Gemit" ("Gesang meines Gemüts"). Seine Gedichte für Kinder wurden in jenen Jahren in viele Sprachen übersetzt und weltweit bekannt.

Am 22. Januar 1949 wurde Lejb Kwitko arretiert, und am 12. August 1952 im Innengefängnis der Moskauer Lubjanka erschossen.  

                                                                                                                                                 Ins Deutsche: M.D.  
 
 
​
                    
            Die einzeln vernichteten jiddischen Schriftsteller.
                                              Der Nister 

 
Unter diesem Pseudonym schrieb Pinchas Kaganowitsch (1884, Berditschew – 1950, ?) einer der hervorragendsten jiddischen Schriftsteller in der Sowjetunion.
 

Als Kind studierte er in Cheder1 und Besmedresch2. Unter dem Einfluss seines älteren Bruders begeisterte er sich für den Chassidismus, gleichzeitig aber las er viel aus der russischen weltlichen Literatur – wobei er die russische Sprache eigenständig beherrschte. In Jiddisch zu dichten begann er sehr früh, und debütierte mit einer Sammlung von Gedichten in Prosa "Gedanken un Motiwn" (1907, Wilna). Bekannt sind auch die von ihm 1902 – 1903 geschriebenen Gedichte in Hebräisch, die erst 1976 veröffentlicht wurden.
 
Schon im ersten Buch werden eindeutig seine ästhetischen und thematischen Orientierungen deklariert, denen er sein ganzes Leben lang treu geblieben ist: der damals in der Literatur herrschende Symbolismus und die göttlich-satanische Dualität des Menschen. Als Ausdruck seiner unermüdlichen Versuche, die moderne Philosophie und die Tradition der Kabbala und Mythologie der Völker zu einer Synthese zu vereinen, entwachsen später seiner Prosa solche Gestalten wie die Jungfrau Maria, Buddha u. dgl.
 
In der ersten Sammlung Erzählungen "Hecher fun der Erd" ("Höher von der Erde weg", 1910) wird die Existenz des Menschen als Tragödie dargestellt, die aber durch die mystische Kraft der Liebe erlöst  werden kann.
 
Leben als Leiden und das geheimnisvolle jüdische Schicksal – ist das Thema seiner Lyriksammlung "Gesang un Gebet" (1912); voller visionärer Bilder und mystischer Sujets sind auch seine Bücher für Kinder "Majsselech" ("Märchen", 1918), "Majsselech in Fersn" ("Märchen in Reimen", 1918) u.a.
 
1918 – 1920 lebt Der Nister in Kiew und beteiligt sich, zusammen mit David Bergelson und David Hofstein, an den innovatorischen Literatursammlungen "Ejgns," ("Das Eigene"), und "Ojfgang" ("Aufgang"). 1921 reist er (über Kaunas) nach Berlin aus, wo er die 2 Bände seiner mystischen und phantastischen Erzählungen unter dem Titel "Gedacht" (1922-1923) herausgibt. Seine neuen, schon in Deutschland geschaffenen Prosawerke veröffentlicht er in den sowjetischen, westeuropäischen und amerikanischen Zeitschriften.
 
1924 – 1925 arbeitet Der Nister in Hamburg, in der sowjetischen Handelsvertretung. 1926, begeistert vom Aufblühen der jiddischen Kultur in der Sowjetunion, kehrt er dorthin zurück. 1929 erscheint das Buch "Fun majne Giter" ("Aus meinen Gütern"), und der Schriftsteller wird scharf als Symbolist und Mystiker kritisiert. Auf diese Kritik antwortet er mit der Erzählung "Unter a Plojt" ("Unter einem Zaun", 1929), deren Held Medardus (der Name ist im Kontext der Polemik von E.T.A. Hoffmann entliehen!) gezwungen wird, von seinem Turm in die niedrige Welt der Clownerie und Geschmacklosigkeit hinabzusteigen. Diese Erzählung wurde in der sowjetischen Literaturkritik als "reaktionärste in seinem allgemeinen verdächtigen Schaffen" beurteilt.
 
Um zu überleben, widmet sich Der Nister der Übersetzungstätigkeit und überträgt ins Jiddische Émile Zola ("Germinal"), Jack London ("The Call of the Wild"), Leo Tolstoi ("Hadshi Murat"), Ivan Turgenjew ("Mumu"), und andere russische, aber auch ukrainische Schriftsteller.
 
(Diese Art literarischen Schaffens war in der Sowjetunion für viele verfolgte Dichter die letzte, oftmals aber eine glückliche Zuflucht – auf diese Weise entstanden z.B. die hervorragenden Übertragungen Boris Pasternaks aus den Werken Shakespeares ("Hamlet" u.a. Tragödien), Goethes ("Faust"), Schillers, Kleists, Rilkes, Verlaines u.a.; Osip Mandelstams Übersetzungen aus dem altfranzösischen Epos, von Francesco Petrarca, Jean Racine, Franz Werfel, aus der Dichtung des großen georgischen Lyrikers  Washa Pschawela; die poetisch-zarten Übertragungen Anna Achmatowas aus der koreanischen, jiddischen, rumänischen Lyrik. Auch Joseph Brodsky, der seinen Nobelpreis, schon im Exil, zugesprochen bekam, erhielt diese leidenschaftliche Neigung, zu übersetzen, sein ganzes Leben lang aufrecht und bereicherte die russische Literatur mit Übertragungen aus dem Werk von Euripides, John Donne, Salvatore Quasimodo, Viteslav Nezval, Robert Lowell und vielen anderen Dichtern.) 
 
1934 schreibt Der Nister in einem Brief an den Bruder, der damals in Paris lebte: "Ich war und bin Symbolist geblieben … Einem wie mir fällt es schwer, zum Realismus überzuwechseln…" Zwar beginnt er einen Roman ("Mischpoche Maschber") – eine "Familien-Saga" im Geiste des in der europäischen Literatur aufgekommenen Genres, und doch bleibt auch hier die Problematik dieselbe: die Dualität der menschlichen Seele. 
 
1941 – 1943 lebt Der Nister in Taschkent, Usbekistan, dann wieder in Moskau, wo er in nahem Kontakt mit dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee steht und wird vom Komitee, schon nach dem Krieg (1947), beauftragt, die Neusiedler aus der Ukraine nach Birobidshan zu begleiten. Er veröffentlicht in der "Ejnikajt" eine Reihe Artikel, u. a. wendet er sich an die Eltern, ihre Kinder zum Lernen in jiddische Schulen zu schicken – was später als Grund betrachtet und ausgenutzt wurde, ihn des Nationalismus zu bezichtigen. Als solcher, als Bourgeois-Nationalist, wird Der Nister November 1948 arretiert und stirbt am 4. Juni 1950 im Gefängnis-Spital. 
 
                                                                                       
                                                                                          * * *                             
                       
                                                                                                                 Der Nister
 

                                                            Unter dem Zaun
                                                     
(Fragment)
 
Mein Zorn brennt bis zum Tode. Und nur du, meine Tochter, kannst mit mir fühlen und mich verstehen.
 
[ . . . ]
 
– Darf man eintreten?
– Man darf eintreten.
Und dein Vater ist zu der Zirkusreiterin hineingegangen, die schon ein leibfarbenes Trikot trug auf ihren Auftritt wartete und das Peitschchen hielt, und sich damit an die Schäfte ihrer Reitstiefel schlug und auf mich und meine Geschenke herabsah – auf mich selbst wie auf einen lästigen Verehrer – und meinen Strauß nahm, und sagte, er würde ihrem Pferd gut zu Kopf stehen, meine Süßigkeiten aß und mit diesen ihr Maul vollstopfte, und von meiner Liebe nichts hören wollte, und mit dem Peitschchen sich immer auf die Stiefelschäfte schlug.
– Lili, – brachte ich leise und beschämt hervor. Und ihre Augen sahen mich bedauernd an, und sie stand wie eine Fremde vor mir, und wie ich sah, war es ausgeschlossen, dass sie mir irgendeine Vertraulichkeit entgegenbringen würde – keinesfalls und auf keine Weise war das möglich.
Und da öffnete sich die Tür und noch ein Zirkusartist aus einem zweiten Ankleidezimmerchen trat herein – mit zwei Fäusten wie Hämmer, und mit Abzeichen behangen, und die Arme und Beine nackt, und das Gesicht wie ein Fass, und die Fratze ein Mond, und er sah mich vor Lili stehen, und fragte sie – "wer ist das?" und Lili – fortwährend die Süßigkeiten kauend, antwortete ihm: "Das ist ein bekannter Stadtgelehrter und einer meiner Verehrer… Ha-ha…". Und sie zeigte ihm meine Geschenke, meinen Strauß, und alles, was ich ihr mitgebracht hatte, und jener besah sich das alles, und auch mich, Tochter, deinen Vater.
Und Verachtung lag in seinem Blick, und gering schien ich ihm, und bald wurde er angeblich auf Lili böse, und Lili musste sich angeblich vor ihm verantworten und hatte angeblich vor ihm Angst, und bat bei ihm für meinen Besuch um Entschuldigung, und der Athlet entschuldigte es ihr, aber nicht m i r, und er ging auf mich zu und zog mir meinen Hut auf die Ohren herab. Und er nahm von Lili die Peitsche, knallte hin zu meiner Seite und – "hinaus!" – befahl er, – "und hier soll deine Nase nicht mehr atmen, hier soll dein Gelehrtengebein nicht mehr auftauchen …"
 
                                                                                                               Aus dem Jiddischen: Melitta Depner
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1 - Jüdische Elementarschule
2 - Synagoge-Schule 


   Die einzeln vernichteten jiddischen Schriftsteller. 
​                                 Moische Kulbak
 


Kulbak, Moische, geboren 1896, Smorgon, Weißrussland, – gestorben 1940 in einem sibirischen Arbeitslager.
Jiddischer Dichter, Prosaist und Dramatiker. 

​Kulbak besuchte als Kind eine jüdisch-russische Staatsschule und parallel dazu auch einen Cheder (jüdische Elementarschule). Später bildete er sich an verschiedenen Jeschiwas (höheren Talmudschulen) weiter.
Während des 1. Weltkriegs unterrichtete er als Lehrer am jüdischen Waisenhaus in Kowno.  
Seine ersten Gedichte schrieb er in Hebräisch, bald jedoch stieg er um zu Jiddisch. Das als Debüt veröffentlichte Gedicht „Schterndl“ („Sternchen“, 1916) ist zu einem Volkslied geworden; sehr populär waren auch seine anderen Gedichte, wie z.B. das unten angeführte „Hej, Antoscha...“  
1918 lässt er sich in Minsk nieder, 1919 zieht er nach Wilna, wo ein Jahr später seine erste Lyriksammlung „Schirim“ („Gedichte“) erscheint und wo sein symbolistisches Poem „Di Schtot“ („Die Stadt“) entsteht, das er im Almanach „Wajterbuch“ veröffentlicht.  
1920 – 23 lebt Moische Kulbak in Berlin und wird von der avantgardistischen Kunst und Literatur geprägt, was in seinen dort verfassten (aber auch in späteren) Werken deutlich zum Ausdruck gelangt – z.B. in dem Poem „Rajssn“ („Weißrussland“) aus dem Buch „Naje Lider“ (Warschau, 1922) mit phantastischen Landschaften und surrealistischen Gestalten, oder in dem expressionistisch-grotesken Roman „Moschiach ben Efraim“, 1924 („Der Messias von Stamme Efraim“, 1996, Berlin) und dem Drama „Jakob Frank“, in dem die modernistische Ästhetik mit der chassidischen Mystik eine eigenartige und für einen Europäer seltene Mischung bildet.  
1923 – 28 ist Kulbak wieder in Wilna, der Hauptstadt des damals selbständigen Litauen, unterrichtet an jüdischen Gymnasien und wird Vorsitzender des 1927 gegründeten jiddischen P.E.N.-Clubs, schreibt einen neuen Roman „Montik “ („Montag“, 1926), in dem er die Enttäuschung eines jüdischen Intellektuellen in den Nachkriegsjahren schildert, dem sein eigenes Volk und dessen Interesse fremd erscheinen. 
Ab 1928 lebt Kulbak in Minsk, Weißrussland, übersetzt Lyrik der weißrussischen Dichter und die Komödie des russischen Klassikers N. W. Gogol „Der Revisor“ ins Jiddische, schreibt den 1. Teil der größeren Erzählung „Selmenjaner“ (erschienen 1931) über die tiefen Veränderungen in einer traditionell-jüdischen Familie in der Sowjetunion. Wegen seines grotesken Stils und des satirischen Anstrichs beim Porträt des Helden, eines Kommunisten, wurde das Werk von der jiddischen „proletarischen“ Kritik negativ bewertet. Der 2.Teil der Erzählung (1935), in dem der Autor diese Kritik zu „berücksichtigen“ versuchte, wurde für den Schriftsteller zum vollen Fiasko, was aber nicht vom Rückgang seines Talentes zeugt: In derselben Periode nämlich schreibt er, in ausgesprochen expressionistischer Manier, sein glänzendes satirisches Poem über das Berlin der 20er Jahre „Disner Tshajld Harold“ („Childe Harold aus Disna“, 1933).
Auch weiterhin bemühte sich Moische Kulbak, ein loyaler sowjetischer Schriftsteller zu werden – aber vergebens: seine Intelligenz, seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Kaballa, der jüdischen und westeuropäischen modernen Philosophie und Ästhetik, seine Verwurzelung in der volkstümlichen und gleichzeitig stilistisch-raffinierten jiddischen Sprache, – das alles machte ihn zum Fremdkörper in der sowjetischen Literatur. Auch einige Stücke, die er fürs Theater schrieb – das Drama in Versen „Bojtre-Gaslen“ („Bojtre der Räuber“, 1936) und „Binjamin Magidow“ (1937, über einen jungen Kommandeur der Partisanenabteilung in Weißrussland) – konnten ihm nicht helfen.  

​Ende 1937 wurde er als „Volksfeind“ verhaftet und starb später in Verbannung in einem Lager (laut anderen Versionen – kam er dort um oder wurde erschossen).

                                                                         *  *  *
                                                                                                               
​                                                                                                                                   Moische Kulbak

                                                   
                                                   Antoscha spielt auf der Bandura...
 
                                                                         (Aus dem Poem „Weißrussland“) 

                                         
                                                                   Hei, hei,

                                                                   Hei, Antoscha, sing doch mal,
                                                                   Spiel doch mal
                                                                   Auf der Bandura:
                                                                   Schure, bure, mure, ture,
                                                                   So ist's recht,
                                                                   Hei, hei.
 
                                                                    Lebte einst ein Fürst zu Krewe.
                                                                    Weiß wie Schnee,
                                                                    Weiß wie Schnee
                                                                    Hat er Kinderchen in Palast –
                                                                    Töchter zwei,
                                                                    Töchter zwei.
                                                                    Bei des Fürsten Pferden aber
                                                                    war Dmitruk Bjadulja Stallknecht,
                                                                    Mit dem Namen Schalopaj * ...  
 
                                                                    Hei, hei,
                                                                    Hei, Antoscha, sing doch mal,
                                                                    Spiel doch mal
                                                                    Auf der Bandura:
                                                                    Schure, bure, mure, ture,
                                                                    So ist's recht,
                                                                    Hei, hei.
 
                                                                    Und es kam die Frühlingszeit,
                                                                    Treibt der Baum schon neue Zweiglein,
                                                                    Hat die Schwalbe Schwälbchen klein,
                                                                    Bringt die Ziege heim das Zicklein,
                                                                    Und die Kuh das Kälbchen klein...
                                                                    Und es kam die Frühlingszeit
                                                                    Für die Töchterchen, die zwei,
                                                                    Bringen sie nachhaus dem Fürsten
                                                                    In der Schürze
                                                                    zwei Bajstrukes,
                                                                    Zwei Bastarde, sprottenklein...
 
                                                                   Hei, hei,
                                                                   Hei, Antoscha, sing doch mal,
                                                                   Spiel doch mal
                                                                   Auf der Bandura:
                                                                   Schure, bure, mure, ture,
                                                                   So ist's recht,
                                                                   Hei, hei.
 
                                                                   Greift der Fürst zu seinem Schwerte,
                                                                   Lässt er spannen an die Pferde;
                                                                   Und von Krewe bis Mashir
                                                                   Und von Shetl bis Damir
                                                                   Jagen Reiter um die Wette,
                                                                   Laufen Läufer und Stafette.
                                                                   Nirgends, wohin sie sich drehn,
                                                                   Ist zu sehn
                                                                   Dieser Mordbub Schalopaj...  
 
                                                                   Hei, hei,
                                                                   Hei, Antoscha, sing doch mal...
                                                                   Spiel doch mal
                                                                   Auf der Bandura:
                                                                   Schure, bure, mure, ture,
                                                                   So ist's recht,
                                                                   Hei, hei.
 
                                                                   In den Wäldern von Kriwitz
                                                                   Wohnt der Räuber Schalopaj.
                                                                   Und der alte Fürst von Krewe
                                                                   Weiß wie Schnee,
                                                                   Weiß wie Schnee,
                                                                   Fährt allein über die Weiten,
                                                                   In der ritterlichen Tracht,
                                                                   Klirrt mit Waffen an den Seiten
                                                                   In der Nacht,
                                                                   In der Nacht... 
 
                                                                   Hei, hei,
                                                                   Hei, Antoscha, sing doch mal,
                                                                   Spiel doch mal
                                                                   Auf der Bandura:
                                                                   Schure, bure, mure, ture,
                                                                   So ist's recht,
                                                                   Hei, hei.
                                                             ____________________
                                                             * Herumtreiber, Faulpelz.  

                                                                                                                  Aus dem Jiddischen: Melitta Depner 

 



                    Die einzeln vernichteten jiddischen Schriftsteller.                                                          Isi Charik 

Charik, Isi (Jizchak), geboren 1898, Sembin, Weißrussland, – umgekommen 1937 in einem sibirischen Lager. Jiddischer Dichter. 

Isi Charik war Mitbegründer der jiddischen sowjetischen Literatur und einer der jiddischen Schriftsteller, die der kommunistischen Idee mit größtem Enthusiasmus und Ergebenheit dienten. Doch rechnete man ihm das nicht an, als seine schwarze Stunde kam.
Geboren wurde Isi Charik in einer armen jüdischen Familie. Der Vater war Schuhmacher, der Großvater – bekannter Badchen (Hochzeitsspaßmacher). Bis zum Alter von 12 Jahren besuchte er einen Cheder (jüdische Elementarschule) und eine russische Grundschule. Später suchte und fand er Arbeit in Minsk, Witebsk und Gomel, verdiente sich sein Brot als Schwerarbeiter, war in einer Bäckerei und in einer Apotheke beschäftigt, und kannte gut das Leben eines jüdischen Proletariers. Er war in der Organisation „Zeire-Zion“ („Jugend Zions“, radikal-demokratische Bewegung innerhalb des Zionismus), und wurde später Mitglied der Kommunistischen Partei.
Nach der bolschewistischen Revolution 1917 gehört er der Minsker Gewerkschaftsleitung an, ist Schuldirektor, Bibliothekar, und 1919 lässt er sich freiwillig in die Rote Armee rekrutieren und nimmt an den Kämpfen gegen die Weißgardisten teil. Dort, auf den Schlachtfeldern des Bürgerkriegs, beginnt Charik Gedichte zu schreiben, mit denen er 1920 in der Zeitung „Di komunistische Welt“ unter dem Pseudonym Isi Sembin debütiert. Seither publiziert er seine Gedichte in der sowjetischen jiddischen und russischen Presse.
Zu Beginn der 20er Jahre ist Charik einer der Leiter des Bildungsvolkskommissariats in Weißrussland, dann wohnt er in Moskau, wo er 1924 das Literaturinstitut W. Brujssow absolviert (Valeri Brjussow – einer der bedeutendsten russischen Dichter anfangs des 20. Jahrhdt.).
In den 20er Jahren erscheinen seine Lyriksammlungen „Tsiter“ („Zittern“, 1922), „Ojf der Erd“ („Auf dieser Erde“, 1926), „Mit Lajb un Lebn“ (1928), „Lider un Poemes“ (1930).
Ab 1928 lebt Isi Charik in Minsk, absolviert die Minsker Universität (Fakultät Philologie), wird Mitglied des Präsidiums des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Weißrusslands, korrespondierendes Mitglied der weißrussischen Wissenschaftsakademie und Chefredakteur der Minsker jiddischen Zeitschrift „Der Schtern“.
Isi Chariks Dichtung, durchdrungen von kommunistischer Ideologie, gleichzeitig aber von poetischer Frische, mit erneuertem Wortschatz und bildhaftem Charakter, wurde von der sowjetisch-jiddischen Literaturkritik als „eine große Errungenschaft unserer Oktober-Literatur“ (gemeint ist die bolschewistische Oktoberrevolution 1917) geschätzt.
Sein Held ist eine in der jiddischen Poesie neue Figur – ein energisch-schöpferischer Mensch, der nichts mehr „mit der elenden Vergangenheit des Schtetl“ gemein hat. In einem Lyrikzyklus „Di Nacht in Birobidshan“ besang er die Besiedlung des jüdischen nationalen Gebiets. Seine Gedichte wurden in viele Sprachen der UdSSR übersetzt. Man verglich ihn mit solch wichtigen sowjetischen Dichtern wie Wladimir Majakowski, Ilja Selwinski und Nikolai Tichonow. 1932 wurde eine Schule in einer Kollektivwirtschaft in Weißrussland nach ihm benannt: Kolchosschule „Isi Charik“...
Sein Lieblingsgenre wird das Poem. In den 20er Jahren bis Anfang der 30er schreibt er eine Reihe Poeme: „Minsker Zumpn“ („Minsker Sümpfe“, 1924), „Brojt“ (1925), „Getrajschaft“ („Ergebenheit“, 1927), u.a. Die handelnden Personen dieser Poeme sind Arbeiter und Vertreter der neuen jüdischen Intelligenz, Kämpfer gegen die alte Welt und Schtetl-Nostalgie, der er aber selbst später in dem Poem „Ojf a fremder Chassene“ („Auf einer fremden Hochzeit“, 1936) Tribut zollte.
Noch im Jahre 1933 wendete sich Isi Charik an die Komintern (Kommunistische Internationale), ihm eine Reise nach Palästina zu ermöglichen, zum Zweck, dort verschiedene Materialien über Zionismus für sein künftiges Werk zu sammeln. März 1937 wurde er in Weißrussland auf einer Versammlung der Schriftsteller des Trotzkismus beschuldigt, und es half ihm auch die Tatsache nicht, dass er schon vor einem halben Jahr, August 1936, ein Gedicht veröffentlicht hatte, in dem es solche „poetischen“ Zeilen gab, wie: „Mein Hund, würde ich ihn Trotzki oder Sinowjew nennen, würde er, mein Hund, vor Schande nicht aufhören zu heulen...“

​Juni 1937 wurde Isi Charik arretiert und später aus dem Gefängnis nach Suchobeswodnij, ein sibirisches Gulag-Lager geschickt, wo er nicht mehr lange am Leben blieb.
                                      
     
                                                                    *  *  *

                                                                                                                                          Isi Charik 
                                         Aus dem Poem "Leierkasten" 

                                                   Hei, lärm los und spiele, Leierkasten, 
                                                   hast bis jetzt gelitten in der Fremde,                                                                                                                    bist umhergezogen ohne Rasten,            
                                                  flink und fröhlich, durstig und im Lumpenhemde.
                                                 
                                                   Unserer Stimme schmeichelte noch keiner,

                                                  unser Blut hat keiner noch gestillt; 
                                                  an jeder Scheibe, jedem satten Fenster einer, 
                                                  der auf uns geschleudert und gezielt... 
                                                 
                                                  In Gässchen, die sich biegen und sich winden,

                                                  versunken ganz in Blut und in Gewein, 
                                                  wolltst du das Weh von jedem fröhlich lindern,
                                                  und konntest selber niemals fröhlich sein... 
                                                 
                                                   Im Lauf von harten Jahr'n und Tagen 

                                                  da warnten wir und schrien im lauten Ton, 
                                                  als wir das Los geworfen, tönten unsre Klagen, 
                                                  in unsrem stechenden und herzlichen Jargon. 
                                                 
                                                   Hei, sei fröhlich, Leierkasten, und erschalle, 

                                                  mit Schreien, Dröhnen und Geklopfe, 
                                                  allen, welche sinken müssen, sinken sollen, 
                                                  musst du schlagen, wie ein Donner, auf die Köpfe. 
                                                 
                                                  Wir wollen und wir können wohl zart scherzen,

                                                  nur wollen wir und können es nicht jetzt, 
                                                  denn wenn wir singen – ist 's aus vollem Herzen, 
                                                  und wenn wir ausgelassen – ist's wie Wind, der fetzt.  
                                                 
                                                  Vom Staub der Gasse bis zum höchsten Fenster

                                                  soll wehen unser Lied wie eine Fahn',                                                                                                                 wir sind die stärksten jetzt, wir sind die schönsten, 
                                                  ich und du, und unser schmutziger Jargon. 
                                                  
                                                                                                Aus dem Jiddischen Melitta Depner 

 

         Die einzeln vernichteten jiddischen Schriftsteller.                                                    Schmuel Persow
 
Persow, Schmuel, geboren 1889 oder 1890, Potschep, Tshernigower Gouvernement, – umgekommen August 1952 im Gefängnis. Jiddischer Schriftsteller.

Schmuel Persow, dessen Vater Händler war und gleichzeitig Melamed (Lehrer an der jüdischen Elementarschule), erhielt als Junge eine traditionell-jüdische Erziehung. Bereits im Alter von 15 Jahren war er als Mitglied im „Bund“ (jüdisch-sozialistische Partei) aktiv. 1907 emigriert er nach Amerika und veröffentlicht, 1909, seine ersten Skizzen in der Wochenzeitschrift „Die fraje Arbeterschtime“. 1917, nach der Februar-Revolution, kehrte er nach Russland zurück. Er wurde Angestellter im Genossenschaftswesen und publizierte ab 1918 seine Skizzen im Wochenblatt „Charkower Zeitung“ wie auch Volks-Märchen in „Kultur un Bildung“. 1919 – 20 trat er mit seinen Artikeln zur Wirtschaftsproblematik in „Der jidischer Komunist“ (Charkow) und „Di komunistische Welt“ (Moskau) in Erscheinung und schrieb  für den Moskauer „Emes“ („Wahrheit“). 1922 wurde er, zusammen mit H. Gildin, M.Tajtsch, einer der Initiatoren der Jiddischen Sektion („Jewsekzie“) beim Moskauer „Verein der Proletarischen Schriftsteller“. 
In seinem ersten Buch mit Erzählungen „Scherblech“ („Scherben“, 1922) greift  Schmuel Persow dem späteren Stil des „sozialistischen Realismus“ vor. 1927 erscheint sein Buch „Tachles“ („Ziel“) und seine Sammlung „Kornbrojt“ („Roggenbrot“, 1928) wurde bereits sehr positiv von der sowjet-jiddischen Literaturkritik aufgenommen. 1931 erscheint sein Roman „Kontraktazie“ („Kontraktion“) und 1933 „Tog un Nacht“, wo er mit warmer Herzlichkeit über die jüdischen Birobidshan-Ansiedler erzählt und die Romantik des neuen jüdischen Schicksals preist.
Mitte der 30er bis Anfang der 40er Jahre wächst sich bei Persow immer mehr die damals populäre „heroisierte“ Skizze zum Hauptgenre aus – wie z.B. seine Skizzen aus der Sammlung „Mentschn fun Metro“ („Menschen aus der U-Bahn“, 1935) oder „Di Geschichte fun Liswer Sawod“ („Die Geschichte des Liswer Betriebs“, 1937); vor und während des  Kriegs schreibt er über die jüdischen Kommandeure, Helden und Partisanen: „Jakow Maschkowski“, 1940, „Jakow Smuschkewitsch – doplter Held fun Ratnfarband“ („Jakob Smuschkewitsch – Zweifacher Held der Sowjetunion, 1941“), „Dajn Nomen is Folk“ („Dein Name ist Volk“, 1944), und dann nach dem Krieg – „Mojsche Hochlow , der Held fun Sowetnfarband“, 1946,  u.a.  Einige von diesen Skizzen wurden sogar ins Hebräische übersetzt und in den Zeitungen „Haarez“ und „Dawar“ im damaligen Palästina veröffentlicht.
Schmuel Persow war Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees – in dieser Eigenschaft wurde er 1952 arretiert, des jüdischen Nationalismus beschuldigt, und musste das grausame Schicksal der anderen verfolgten jiddischen Dichter teilen.
1957 rehabilitierte man ihn offiziell und gab zwei seiner Bücher in russischer Übersetzung heraus –  «Избранное» („Ausgewählte Werke“, 1957) und «Очерки о героях» („Skizzen über Helden, 1959 “). Als Beispiel seines Stils bringen wir hier ein Fragment seiner längeren Erzählung „Schteg un Weg“ aus dem Buch „Tog un Nacht“, Moskau, Verlag „Emes“, 1933.
 
                                                                             *  *  *
                                                                                                      Schmuel Persow

​                                                           Steg und Weg
 
                                                                               (Anfang)
 
Sobald sich von der Seite her die Sonne über die Blumenbeete auszubreiten begann, traf Ziganok ein.
 
Keiner bemerkte, wie und woher Ziganok kam, was gar kein Wunder ist: Bevor man hier anlangt, muss man zuerst durch eine lange Allee hindurchgehen, die sich unmittelbar von der Mauer bis zum Palast hinzieht. Und weil die Gutsbesitzer einst die Allee nicht für die jetzigen Hausherrn des Palasts – einige jüdische Familien aus dem Nachbarstädtchen – gepflanzt haben, sondern nur für sich selbst, setzten sie Ahorn, Tannen und Fichten, dicht und in schnurgerader Linie, gleich wie mit einem riesigen Lineal gezogen. Daher ist es gerade in der Allee stets dunkel und kühl, wie in einem langen Korridor eines altertümlichen Gebäudes. Und dort, wo die Allee endet, trat ehemals ein geräumiger Platz zutage, wie ein See, umsäumt von Blumenbeeten, die jahrelang die geöffneten Fenster der Gutsbesitzer mit intensivsten, duftendsten Gerüchen beströmten.
 
Die Allee blieb bis zum heutigen Tag erhalten. Weshalb auch sollten die Leute eines Nachbardorfs hierher kommen und die Bäume abhacken, wenn es überall ringsum so viel Wald gab? Aber den runden Platz und die Blumenbeete kann man nicht mehr erkennen.
 
Keiner bemerkte Ziganoks Ankunft. Er aber bemerkte, noch innerhalb der Allee, (dank einer Gewohnheit vom Militärdienst an der Grenze her – ständig das Auge scharf und angestrengt auszurichten), Hanna sehr wohl, die gebeugt in der Mitte des Platzes stand, den einen Fuß auf den Karst gestützt.
 – Hackst du? – Ziganoks Stimme klang so, als ob sie alte Bekannte sein würden, oder, zumindest aus dem selben Dorfe stammten...
 
Das kleine, dürre Körperchen Hannas zuckte zusammen. Sogar die Hacke fiel ihr mit dumpfem Klang aus den Händen. Sie schrie auf mit einer Stimme, die nicht die ihre schien:
 – O weh, was für ein neues Unglück schon wieder?
 
Auf diesen Schrei hin erschien das Weib des Pfuschers mit der Milchschöpfkelle von geradewegs unter der Kuh weg:
 
– Was hast du dort so gejammert, Hanna? Das ist doch Ziganok.
 
– Ziganok? – fragte Hanna verlegen und mit schwach gewordener Stimme, und begann ihr Kopftuch steifer zu binden, indem sie gleichzeitig an beiden Enden zog. – Schau mal, wirklich Ziganok!
 
Ziganok lächelt. Und weil er eine Schramme auf der Wange hat (ein Andenken von einem Zusammenstoss an der Grenze), scheint sein Gesicht noch mehr zu lächeln.
–  Wo sind denn die zwei Genossen? – fragt Ziganok, als sei er Einheimischer.
–  Einer ist in die Stadt, antwortete ihm das Pfuschers Weib, um allen dort Beine zu machen. Keine kleine Sache, solch ein Unrecht! ... (Er alarmierte die Behörden in der Stadt, weil die Bauern nicht wollten, dass die Juden hier weiterhin wohnen bleiben sollten. – Anm. der Übersetzerin)

Hanna unterbricht:
– Und meiner ist hier. Beschäftigt sich mit der Wirtschaft … Eine schöne Wirtschaft das! ... Und von allen Hoffnungen ist nur das geblieben … – sie breitete weit ihre Arme aus und deutete auf das Stückchen Platz zwischen der Allee und dem Palast.
Des Pfuschers Weib schaukelt dazu mit dem Kopf – was “Ja” oder “Nein” bedeuten mag, und man kann nicht verstehen, ob sie mit diesen Worten einverstanden ist oder nicht.  Ziganok schaut in die Milchschöpfkelle hinein – sehr wenig Milch ist darin, und  jegliche Spur seines Lächelns ist verschwunden.
Allen dort Beine machen? Das ist gut. Wie denn, zulassen, euch in die Suppe zu spucken? Ge-no-sse… – schreit er plötzlich und schaut auf die beiden  Frauen, dass sie ihm den Namen nennen. Hanna hat das bald durchschaut und kommt ihm zu Hilfe:
Awrum-Ber, wo bist du hin verschwunden? Awrum-Ber, sieh, wer da gekommen ist!
 
 
                                                                                                             Aus dem Jiddischen Melitta Depner
 


 
​             Die einzeln vernichteten jiddischen Schriftsteller.                                                        SELIK  AXELROD
                                                                   
Axelrod, Selik, geboren 1904, Molodetschno, Weißrussland,  - 1941 arretiert und erschossen in Minsk. Jiddischer Dichter.
 
Seinen ersten Unterricht erhielt Selik im Chejder (der jüdischen Elementarschule), verbunden mit einer traditionellen jüdischen Erziehung. Doch schon im Alter von 11 Jahren musste er, wegen des 1. Weltkriegs, mit seiner Familie aus der Heimat fortwandern und besuchte eine russische Schule in Tambow (Zentralrussland). Diese Lebensperiode  spiegelte er später (1923 – 24) in seinem poetischen Zyklus “Herbst 1915” wider.
 
In der ersten Hälfte der 20er Jahre studierte er im Brjussow-Institut für Literatur und Kunst in Moskau, wo er sich zwischen den jiddischen Schriftstellern bewegte und tätig war. 1921 – 23 veröffentlichte er Gedichte im Minsker “Wecker”. Seine erste ganz dünne Lyrik-Sammlung “Tsapl” (“Schauder”) erschien 1922 in Kiew, und die zweite, “ Lider” (“Gedichte”) – erst 1932 in Minsk, nachdem 10 Jahre lang immer die notwendige Zustimmung der Partei gefehlt hatte, sein Buch herauszugeben.
 
Für Selik Axelrod war “Jidischkajt” (aschkenasisch-jüdische Weltanschauung und der daraus resultierende “Modus Vivendi”) von großer Bedeutung, und er schrieb mit Begeisterung über das Judentum und dessen Vergangenheit – was den Machthabern und Kulturkommandeuren viele Jahre als Grund und Vorwand diente, den Dichter des Nationalismus zu bezichtigen. Seine neuen Gedichte publizierte er in der Zeitschrift “Schtrom” (1924) und im Sammelband “Najerd” (“Neuboden”, 1925). Ende 1925 nahm er an der allgemeinen Versammlung der Moskauer jiddischen Schriftsteller teil und wandte sich gegen die Verurteilung des Symbolismus: “Alle dichterischen Strömungen sind berechtigt – argumentierte er, – sofern sie nur  künstlerisch sind”.
 
Er übersiedelte nach Minsk, der Hauptstadt von Weißrussland, und veröffentlichte seine Gedichte in den dortigen Blättern: “Di rojte Welt”, “Schtern”,“Emes-schurnal” (“Wahrheits-Zeitschrift”) u.a. Seine Lyrik wurde immer scharf von den jiddischen “proletarischen” Literaturkreisen kritisiert, so hat z.B. das Gedicht “Tog af Arbet is un Nacht af huljen” (“Der Tag ist da für die Arbeit, und die Nacht um sich zu freuen”) echte Proteste hervorgerufen, unter anderem solche heißen Aufrufe wie: ”Diese epikureischen, Verzeihung, Motive, diese Nachklänge der Jesseninschtina (gemeint ist Sergej Jessenins sogenannte “Kneipen-Lyrik“) beschmutzen noch bis jetzt (Jessenin beging Selbstmord 1925 – L.B.) unsere Dichtung und es muss gegen sie ein hartnäckiger Kampf geführt werden” (“Prolit”, – “Proletarische Literatur” – 1929). Ob es wirklich gefährliche Zeilen für das Sowjetregime waren, die in dem Gedicht standen?
 
                                                      Kejner zol di Schwel mer nit ariber!
                                                      Kop tsu Kop un Hent af Hent!..
                                                      Wen s’tsezingt zich Nacht un Liebe
                                                      Meg farbrent wern di gantse Welt!..
 
                                                     (Keiner soll die Schwelle mehr herüber!
                                                     Kopf an Kopf und Hand auf Hand!..
                                                     Wenn ihr Lied beginnen Nacht und Liebe,
                                                     mag doch stehn die ganze Welt in Brand!.. )
 
Es gab aber auch andere Urteile: ”Axelrod gehört zu den besten und offenherzigsten Dichtern bei uns in der Sowjetunion…”, sagte – in Bezug auf die Lyrik-Sammlung “Gedichte” – einer der wichtigsten jiddischen Literaturkritiker Max Erik (Pseudonym von Salman Merkin), dessen eigenes Leben im Lager Wetloschansk in Sibirien endete.
 
Und noch zwei weitere Ausgaben von Selik Axelrod erschienen während seines Lebens – “Un wider Lider” (1935) und “Ojg af Ojg” (“ Unter vier Augen”, 1937).
 
Am 30. Mai 1941 fand in Minsk eine Versammlung der Minsker jiddischen Schriftsteller statt. Michail Linkow, der Vorsitzende des Sowjetisch-Weißrussischen Schriftstellerverbandes, warf den jiddischen Literaten vor, sie hätten noch keine Werke geschrieben, “die allseitig den heutigen Tag abspiegeln”. Man diskutierte auch darüber, was eigentlich die “sowjetische Thematik” sei. Ein Bericht über diese Versammlung wurde am 1. Juni 1941 in “Oktober” veröffentlicht, und wenngleich dort nichts Konkretes bezüglich Selik Axelrods Haltung zu diesem Problem erwähnt ist, kann man sich, einer Bemerkung in Linkows “Schlusswort” zufolge, vorstellen, dass sich der jiddische Dichter kategorisch gegen Linkows ideologische Position gestellt hatte. Kurz nachher wurde Selik Axelrod arretiert.
 
Die jiddische Schriftstellerin Rivka Rubin hat in den 60er Jahren darüber geschrieben, wie sehr damals, Anfang Juni 1941, Perez Markisch, Ilja Ehrenburg und einige andere sowjetische Schriftsteller bemüht waren und Versuche unternommen hatten, den Bruder ihres Mannes (des bekannten Malers Mark Axelrod, 1902–1970) aus dem Minsker Gefängnis zu retten. Aber alles war vergeblich gewesen – und am 26. Juni, zwei Tage vor dem Einzug der deutschen Truppen in Minsk, wurde Selik Axelrod erschossen. 
 
         *  *  *
 
                                                                                                                        Selik Axelrod
 
                                                                Schtejt a schtot
                                                                in lange lajlecher gewiklt wajs
                                                               un murmlt blas ir langzame tfile
                                                               fun decher blecherne tserunene in milch
                                                               mit pasn lajwntene, mit alte schtile –
                                                               ich bin hajnt skulptor fun a perlnacht!
 
                                                               Af kalte tkhejlesdike kuplen
                                                                gis ich ojs
                                                               fun farbn hel a gipsn gipsene lewone
                                                               un ruik trift der lojter ejl
                                                               fun kojmens tsiglne af erd zachter fartracht –
 
                                                               In lange lajlecher gewiklt wajs
                                                               schtejt sojdesdik a blase schtot
                                                               un duchnt schtum mit mir af zilberne lewone.
 

 
                                                                                                                                            Selik Axelrod
                                                                                             *  *  *

 
                                                               Steht eine Stadt
                                                               in lange Leintücher in weiß gehüllt,
                                                              und murmelt blass ihr langsames Gebet,
                                                              das von den Blechdächern, in Milch zerronnen,
                                                              mit alten, stillen Leinenstreifen weht –
                                                              heut bin ich Skulpteur einer Perlennacht!
 
                                                             Auf kalte himmelblaue Kuppeln
                                                             gieß ich aus
                                                             in Farben hell, die gipsig gipsne Mondenkugel
                                                             und ruhig tropft das lautre Öl
                                                             von Ziegelschornsteinen zur stillen nachdenklichen Erde –
 
                                                             In lange Leintücher in weiß gehüllt,
                                                             geheimnisvoll, steht eine blasse Stadt
                                                            starrt stumm mit mir zum silberhellen Mond.
  
                                                                                                           Aus dem Jiddischen: Melitta Depner
 
 

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                                                           ZWEI KLASSIKER DER MODERNEN JIDDISCHEN DICHTING

                                                                                                            *
                                                                       Chajim Nachman Bialik
                                                        und sein Poem "In der Stadt des Abschlachtens"
                                                       (Zur 100sten Jährung des Kischinewer Pogroms)


Bialik, Chajim Nachman, geb. 1873 in Radi bei Shitomir, Wolhynien, gest. 1934, Wien. Größter Dichter des jüdischen Volkes im 20. Jahrhundert. Schrieb in hebräischer und jiddischer Sprache.
 

Der hebräische und jiddische Dichter, Erzähler und Essayist, Übersetzer und Publizist Chajim Nachman Bialik kam in einer armen Familie in Radi, Ukraine, zur Welt. Dort verbrachte er auch seine ersten fünf Lebensjahre inmitten stiller Wälder und unberührter Natur, die er später immer wieder in seinen Gedichten einfließen ließ.
 
Als der Vater sein Amt verlor, musste die Familie nach Shitomir umsiedeln, um einen neuen Lebensunterhalt zu finden. Dort besuchte der kleine Chajim den Cheder (jüdische Elementarschule). 1880, nach dem Tod des Vaters, wurde das Kind dem Großvater, einem strengen und frommen Talmudisten, als Zög­ling übergeben, unter dessen Obhut er zehn Jahre lang verbleiben musste. Als Chajim 13 wurde, setzte er im Besmedresch (Synagogen-Schule) seine Ausbildung fort. Dort im Gebetshaus studierten die Jungen in voller Abgeschiedenheit die heiligen Bücher, vor allem Tora und Talmud, und dann auch die Kabbala. Später versuchte er eine etwas weltlichere Ausbildung in der liberalen Woloschiner Jeschiwa (Talmudschule) zu erlangen, wurde aber schnell enttäuscht und bildete sich autodidaktisch weiter. Den größten Einfluss übten die Artikel von Achad-ha-Am, dem Ideologen des "spirituellen Zionismus", und die russische Literatur auf ihn aus: das erste Buch in Rus­sisch (mit dieser Sprache hatte er sich in eigner Regie vertraut gemacht), wa­ren die Gedichte von Semjon Frug (Schimon Schmuel Frug, 1860-1916), welcher Lyrik und Prosa in Russisch, Hebräisch und Jiddisch schrieb. Sein eigenes dichterisches Debüt erfolgte 1892 mit der Veröffentlichung des Gedichtes "El ha-Zippor" ("Zum Vög­lein") in Chajim Rawnizkis Almanach "Ha-Pardes". Seine erste Lyriksammlung erschien im Jahr 1902, ein ganzes Jahrzehnt später.
 
Die Aussichten für die hebräische Literatur waren zu jener Zeit nicht rosig: Schon lange vorher, in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, schrieb der bekannte jüdische Publizist Abraham Uri Kowner (1842-1907): "Die Literatur in Hebräisch wird ihre Existenz in Kürze aufgeben. Sollen sich unsere Schriftsteller nicht einbilden, dass die hebräische Literatur noch in den künftigen Generationen weiterleben wird".
 
Als Kowner das schrieb, hatte er dafür alle Gründe – die "heilige Sprache" wurde immer weniger und von immer kleinerem Kreis gesprochen. Die Spra­che des Volkes war Jiddisch. Bloß in Israel wurde ernsthaft und manchmal sogar mit Zwangsmitteln versucht, Hebräisch wiederzubeleben, während selbst der Begründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl, kein Hebräisch, bzw. kein Jiddisch sprach und seine ganze Konzeption in reinem Deutsch entwarf.
 
In Russland aber fand der große Dichter Bialik zur hebräischen Literatur – und das bleibt bis heute eine eindrucksvolle Illustration zu dem alten weltan­schaulichen Problem, ob und welche Rolle eine Einzelpersönlichkeit bei histo­rischen Prozessen spielen kann!
 
Bialik gehört nicht zu jenen weltbekannten Schriftstellern mit legendärem  Schicksal und buntem, glänzendem Lebensweg. Über viele Jahre hinweg sollte er ge­zwungen sein, hart zu arbeiten und für das Überleben zu kämpfen; er sollte Zeitzeuge und Mitbetroffner schrecklicher historischer Kataklysmen werden. Und nur in den letzten Jahren seines Lebens, nach Aussiedlung aus dem bolschewistischen Russland (1921) und einigen darauf folgenden Jahren Aufenthalt in Berlin und Hamburg, sollte sein Schicksal leichter werden. In Tel Aviv, in der Straße seines Namens, richtete er sich schließlich ein prächtiges Haus ein, und fand Anerkennung als einer der angesehensten Bürger des Landes.
 
Im Vergleich zu anderen "Großen" blieb der Umfang von Bialiks schöpferischem Schaffen bescheiden. Zu sei­nen bekanntesten Werken gehören solche Gedichte und Poeme in Hebräisch oder Jiddisch, oder in beiden Sprachen zugleich, wie "Mi-schut ba-merchakim " ("Nach den Wanderungen in der Fremde"), "Haen chazir ha-am" ("Wie trocknes Gras"), "Metei midbar" ("Die Tote der Wüste"), "Megillat ha-esch" ("Die Feuerrolle"), die Anthologie "Sefer ha-aggada" ("Buch der Legenden" – zusammen mit  I. Rawnizki), sowie Übersetzungen ins Hebräische von Cervantes ("Don Quijote"), Schiller ("Wilhelm Tell") u.a., und schließlich das Zentralwerk seines Schaffens, das Bialik in beiden jüdischen Sprachen schrieb – das Poem "In der Stadt des Mordens" (hebräisch: "Be-ir ha-harega"), bzw. jiddisch: "In Sch'chite-Schtot" ("In der Stadt des Abschlachtens"), welches das jüdische Volk wirklich erschütterte und wie aus einem Schlaf wachrüttelte, und daher den Historiker und Publizisten Josef Klausner (1874 – 1958) veranlasste, den Verfasser als "Dichter der nationalen Wiedergeburt" zu bezeichnen.

                                                                                                 *  *  *
 
Am 6. April 1903 brach der Kischinewer Pogrom aus.
Obwohl Gemetzel und Massaker schon immer und in fast allen Ländern des Goles (hebr.: Galut – Exil, Diaspora) die Existenz der Juden begleiteten, und sich in der neuen Epoche besonders im russischen Imperium ausgebreitet hatten (sodass selbst der heute international übliche Begriff "Pogrom" russischer Herkunft ist), war der Kischinewer Pogrom mit seiner grausamen Unmotiviertheit eine qualitativ neue Erscheinung in der Menschheitsgeschichte, ein Verbrechen, das den Zorn und die Proteste der ganzen zivilisierten Welt hervorrief. Das sichtbare "Endergebnis" dieses Pog­roms waren 49 getötete und 586 verletzte Menschen sowie 1,5 tausend zer­schmetterte jüdische Häuser und Kaufläden. Am gefährlichsten jedoch waren seine damals noch nicht offenkundigen Folgen für die Zukunft, die im neuartigen Charakter dieses Pogroms verborgen lagen. Während solche Massenmorde vorher ein religiöses, ethnisches oder öko­nomisches Motiv hatten, war der Kischinewer Pogrom der erste politische Pogrom in der Geschichte – ein Pogrom, vom Staat selbst und zu staatlich-politischen Zwecken geplant, vorbereitet und durchgeführt. Es zeigte sich, dass es später weitere derartige Pogrome geben sollte, nur dass die konkreten Ziele und die Länder, wo sie stattfanden, andere waren.
 
Das Ziel die­ses schrecklichen "Debüts" hier in Kischinew war, die antimonarchisch-revolutio­näre Kraftwelle der immer mehr proletarisiert werdenden Bevölkerung in eine andere Richtung zu lenken, wobei nicht die werktätigen Klassen, sondern das Lumpengesindel als Hetzer und "empörtes Volk" benutzt wurde (lies z.B. in Erich Kästners "Unser Weihnachtsgeschenk" über den Pogrom in Berlin am 10. November 1938).  
 
Unmittelbar nach dem Pogrom (6.ter bis 7.ter April), schickte das jüdi­sche Gesellschaftskomitee Bialik aus Odessa nach Kischinew. Er sammelte dort Zeugnisse, Dokumente und Photos, befragte Verunglückte und Augenzeugen, füllte einige Hefte mit Aufzeichnungen – und schuf später sein Poem in zwei Sprachen, wie gesagt, "Be-ir ha-harega" und "In Schchite-Schtot", das ihn bald beim Judentum der ganzen Welt bekannt machen sollte. "Bekannt" – ist aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit "geliebt" oder "wahrgenommen". Im Poem gibt es nicht nur grausame Bilder und das Beweinen der Opfer – sondern auch tiefe Verachtung und harte Vorwürfe gegenüber dem eigenen Volk, das sich fast kampflos abschlachten lässt: "Mein Volk – ist abgerissenes Gras, denn kann was Abgerissenes le­ben"? Besonders umstritten war der Schlussteil des Poems, in dem der Dichter seinem Zorn und seiner Missachtung freien Lauf ließ, eine wirkliche Schocktherapie:
            
                                                         " ...Und morgen, Menschensohn, betritt die Gasse,
                                                         und sieh: ein Markt, ein Markt lebendig toten Bruchwerks,
                                                         erschlagene, halb tote Menschenwürmer,
                                                         zerbrochene und schief verkrümmte Rücken,
                                                         in Fetzen eingewickelt: Haut und Knochen,
                                                         von Kindern – wüsten Krüppeln jetzt; von Weibern, – 
                                                         zu Tod gemarterten und eingedörrten;
                                                         ein Heuschreck und des späten Sommers Fliegen
                                                         befallen Tür und Tor und alle Fenster,
                                                         belagern dicht die Schwellen von den Häusern,
                                                         und strecken dort, gelernt zu betteln, krumme Hände aus
                                                         mit bar entblößten eiterigen Wunden,
                                                         man bietet schreiend feil sein Päckchen Ware
                                                         und wirft die wässerigen Augen auf die Fenster,
                                                         wie Knechte, wie geschlagne Hunde auf den Herrn!
                                                         Die Wunde – einen Groschen!
                                                         Die Tochter – einen Groschen, die geschändete!
                                               Einen Groschen nur – des alten Vaters Tod,
                                               und auch der Bräutigam, das junge Opfer!
                                               Zum Friedhof, Vagabunden, mit den Säcken!
                                               Schnell, lauft dorthin, und grabt die weißen Knochen
                                               der Märtyrer aus frischen Gräbern,
                                               stopft voll die Säcke, jeder seinen eignen,
                                               und in die Welt macht euch mit auf und schleppt euch
                                               von Stadt zu Stadt, wo nur ein Jahrmarkt ist,
                                               und unter allen fremden hohen Fenstern
                                               singt eure heißren, bettlerischen Lieder,
                                               um Mitleid fleht, und schnorret dort und gaunert,
                                               so wie bisher, mit eurem Fleisch und Bein..."
                                          
                                                                                                          Aus dem Jiddischen: Melitta Depner


                                                 *
                                                     
                                           Der jiddische Nationaldichter Abraham Suzkewer

 
               Suzkewer, Abraham, geboren 1913, Smorgon, Litauen (heute Weißrussland), gest.  2010.  Poet und Prosaiker.
 
Abraham Suzkewer kam in einer traditionell-jüdischen Familie zur Welt. Seine Kinderjahre verbrachte er in Sibirien, wohin die Familie während des 1. Weltkriegs umgesiedelt wurde. Zeitlebens blieb ihm diese sibirische Kindheit in der Weite der zu Eis erstarrten, magischen Landschaft ein Quell poetischer Inspiration.
 
Nachdem 1920 der Vater gestorben war, zog die Mutter mit ihren Kindern nach Wilna (heute Vilnius, Litauen), wo der kleine Awrum, so klingt dieser Name in Jiddisch, zunächst einen Cheder (jüdische Elementarschule), anschließend ein jüdisch-polnisches Gymnasium besuchte, und später als Gasthörer an der Wilnaer Universität studierte.
 
1927 begann er in Hebräisch zu dichten. Doch nachdem er kurz darauf in eine jüdische Pfadfindergruppe eingetreten war, wo man Jiddisch sprach, fing er an, in dieser Sprache zu schreiben. Er debütierte 1933, als er einmal Warschau besuchte, mit einem Gedicht in der jiddischen „Wochnschrift far Literatur“. Als er 1935 abermals nach Warschau kam, lernte er dort jiddische Schriftsteller wie Nojach Prylucki, Ahron Zeitlin, Julian Tuvim u.a., kennen, und begann seine Gedichte in verschiedenen jiddischen Literaturmedien zu veröffentlichen. Gleichzeitig fing man an, ihn auch in der avantgardistischen New Yorker Zeitschrift „In sich“ zu drucken. 1937 erschien Suzkewers erster Lyrik-Band „Lider“, welcher in der Literaturkritik eine sehr positive Beurteilung fand.
 
1940 wurde Litauen durch die Sowjets okkupiert. Suzkewer arbeitete im Rundfunk, und fuhr fort, seine Gedichte – vorwiegend Landschaftslyrik – in Jiddisch zu schreiben. Bald gab er sein zweites Buch „Waldiks“ („Waldiges“) heraus.
 
1941 befand sich Suzkewer, zusammen mit seiner Frau, auf dem von deutschen Truppen okkupierten Territorium, wo man sich als Jude, um sein Leben nicht zu verlieren, ständig verstecken und verbergen musste. Unter diesen ausschließlich schweren Bedingungen schrieb er den Lyrikzyklus „Penimer in Sumpn“ („Gesichter in Sümpfen“). Auch später, im Wilnaer Getto, wo er Mitglied der Kampforganisation war, und wo seine Mutter und sein dort geborener Sohn ermordet wurden, hörte Suzkewer nicht auf zu dichten, und beendete Februar 1942 das dramatische Poem „Dos Kejwerkind“ („Das Grab-Kind“). Während dieser Zeitperiode gelang es ihm und seinem Dichterfreund Szmerke Kaczerginski, einen Teil des Bücher- und Handschriftenbestandes, der vernichtet werden sollte, vom Sammelort des YIVO-Instituts aus ins Getto zu schmuggeln und zu verstecken. September 1943, kurz vor „Liquidierung“ des Gettos, schaffte er es, mit einer Widerstandsabteilung die Narotschaner Wälder in Weißrussland zu erreichen, wo er in der Partisanentruppe bis 12. März 1944 verblieb, dem Datum, an dem er und seine Frau mit einem eigens geschickten Militärflugzeug nach Moskau gebracht wurden. Dort nahm er an politischen Meetings und literarischen Versammlungen teil, trat im Rundfunk auf, berichtete von den grausamen Geschehnissen, von der Katastrophe und Tragödie des Wilnaer Gettos.  
 
In Moskau lernte Suzkewer solche hervorragenden Schriftsteller kennen wie Boris Pasternak, der einige seiner Gedichte ins Russische übertrug, und Ilja Ehrenburg, der über ihn die Skizze „Triumph des Menschen“ in der wichtigsten sowjetischen Zeitung „Prawda“ („Wahrheit“) veröffentlichte. In Moskau entstand Suzkewers Buch „Fun Wilner Getto“, das 1946 im sowjetischen Verlag „Emes“ („Wahrheit“) und später, dann ohne Kürzungen, in Paris herausgegeben wurde.
 
Am 27. Februar 1946, bei den Nürnberger Prozessen, trat Suzkewer als Zeuge vor das internationale Tribunal. Mitte 1949 reiste er aus der Sowjetunion nach Polen aus, besuchte Frankreich und die Niederlande, schrieb sein großes Poem über das Wilnaer Getto „Gehejmschtot“ („Geheimstadt“) und beteiligte sich am zionistischen Nachkriegskongress in Basel. Hier begegnete er der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir, die ihm und seiner Frau, später, im September 1947, half, illegal ins jüdische Land einzuwandern.
 
1948 – 49 diente Suzkewer als Journalist beim israelischen Militär und hielt seine neuen Erlebnisse in zwei Lyrikbänden: „Lider fun Negew“ und „Gajstige Erd“ fest.
 
1949 gründete er in Tel-Aviv die Zeitschrift mit dem symbolträchtigen Namen: „Di goldene Kejt“ („Die goldenen Kettenglieder“), die als beste jiddische Zeitschrift aller Zeiten in allen Ländern anerkannt wurde und bis 1995 auf höchstem ästhetischen, inhaltlichen und sprachlichen Niveau die moderne jiddische Literatur repräsentierte. (Der Kollaps dieser Literatur, der katastrophale Mangel an hochprofessionellen Dichtern, Prosaikern, Literaturwissenschaftlern, Essayisten, Kritikern und – vor allem – an jiddischen Lesern zwang Suzkewer, den ständigen Redakteur der Zeitschrift, diese im Jahre 1995, mit Heft 141 einzustellen).
 
1952 erschien Suzkewers Poem „Sibir“ („Sibirien“, mit Illustrationen von Marc Chagall) zuerst als Übertragung in Iwrit, wie man das moderne Hebräisch bezeichnet, und 1953 – im Original, in Jiddisch, sowie in englischer Übersetzung (herausgegeben durch die UNESCO). 1953 – 74 arbeitete der Schriftsteller an dem Gedicht- und Prosaband „Griner Akwarium“ („Grünes Aquarium“. Kurze Beschreibungen. Prosastücke. Jiddisch und Deutsch. Übersetzung von Jost. G. Blum u. a. Suhrkamp Verlag, 1992).  
 
Zu den wichtigsten Werken Suzkewers gehören: „A Spigl ojf a Schtejn“ (1964); „Zejtike Penimer“, 1970, („Gesichter der Zeit“); der große Gedichts- und Poeme-Zyklus, den er in den 70er – 80er Jahren schrieb: „Lider fun Togbuch; „Tswiling-Bruder“ (1986). Viele von seinen  Werken wurden ins Englische, Französische u.a. Sprachen übersetzt; ins Deutsche (außer „Grünes Aquarium“): „Kol-Nidre“ (1961, Übertragung von Leon Bernstein); 13 Gedichte, übersetzt von Hubert Witt, in der Anthologie „Der Fiedler vom Getto“ (1966); Erzählungen „Die Himmelsmünze“ und „Dort, wo die Sterne schlafen“, übersetzt von Andrej Jendrusch, in der Anthologie  „Federmenschen“, (1996); 14 Gedichte in Jiddisch und Deutsch, übersetzt von Jost. G. Blum, in der Zeitschrift „Metaphora“, Num. 3/4, 1998.
 
Abraham Suzkewer ist Träger des Mangerpreises (1969), des Staatsprä-sidenten-Preises (1976), des „Staat-Israel“-Preises (1985) u.a.
 

1963, als man Suzkewers 50stes Geburtstagsjubiläum feierte, kam zu diesem Fest der jiddischen Nationalkultur der weltberühmte Maler Marc Chagall nach Israel und sagte in seiner feierlichen Rede: „Ich bin zufrieden, hier zwischen Jidden zu sein und begrüße meinen Freund Abraham Suzkewer, welcher nicht nur ein großer Poet, sondern auch ein Symbol ist ... Er war zwischen denen, die in den gesperrten Gettos gefiebert und gegen unseren Feind gekämpft haben... Es ist eine Zeit gekommen, in der wir Juden wiedergeboren werden können. Wir sind kein Volk, das stirbt. Und ich möchte Suzkewer wünschen, dass seine Kunst noch mehr von jenem neuen Glanz bekäme, den ich vor kurzem auf den Gesichtern bei den „Sabren“, den schon hier im Lande Geborenen, sah.“ 

 


                                                                                       * * *
                                                                                                                     Abraham Suzkewer
 
                                                                     Murmel-Hieroglyphen
 
                                         Die Murmel-Hieroglyphen deines Angesichts sind wahre
                                          Legenden meiner Generation.
 
                                         Ich lese sie mit Aug und Ohren. Ihr Inhalt wiegt
                                         viel mehr als Bibliotheken.
 
                                         Ich lese deine Murmel-Hieroglyphen und bewundre
                                         die Helden und die Opfer.
 
                                         Bewundre das verlorne Feuer,
                                         und seine letzten Funken.
 
                                         Ich lese deine Murmel-Hieroglyphen und erkenne
                                         so eigenartig wahr mein eignes Leben.
 
                                         Erkenn’ den Nagel, der tief in meiner Seele,
                                         und wessen Hand und Hammer ihn hineingeschlagen haben.
 
                                        Erkenn’ die Leiter, die mich hat erhoben
                                        zur tiefsten Strömung von einem umgekehrten Abgrund.
 
                                        In deinen Murmel-Hieroglyphen leb’ ich,
                                        wie in dem ersten Teil meines Gedächtnisses.
 
                                       Erkenn’ darin mein ungestillt Entzücken,
                                       das ich ererbte in der Erben-losen Welt.
 
                                      In deinen Murmel-Hieroglyphen leb’ ich
                                      auch gegenwärtig, wenn ich les darin mit Aug und Ohren.
 
                                                                                                     Aus dem Jiddischen Melitta Depner
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